Sozialdemokratische Kommunalpolitik am Beispiel Magdeburg

Ralf Regener

Kommunalpolitik war für die Sozialdemokratie im Deutschen Kaiserreich allgemein ein schwieriges Feld. Das hatte sowohl mit der Partei selbst als auch den staatlichen Rahmenbedingungen zu tun.

Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgebildeten theoretischen Grundsätze der Partei rückten den gesamten Staat in den Vordergrund. Der Klassenkampf sollte die bestehende Ordnung als Ganzes überwin­den. Kleinteilige und lokale Verbesserungen in Stadt- und Gemeindevertretungen waren zunächst zweit­rangig für das Endziel der sozialistischen Gesellschaft. Kommunalpolitische Aktivitäten wurden deshalb oftmals als sinnlos betrachtet und zynisch als „Gas- und Wassersozialismus“ bezeichnet. Mitunter wurden sie gar als ehrlos und gefährlich diskreditiert, da lokale Kompromisse die ideologische Identi­tät und das Einheitsideal der Partei gefährden würden.

Erst die innerparteiliche Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende sorgte für eine neue Gewichtung. Danach war es möglich, den Fokus auf soziale Re­for­men und kleinteilige Verbesserungen zu legen, anstatt unbedingt auf das große Ziel der Revolution hinarbeiten oder deren Eintreten abwarten zu müs­sen. In dieser Auslegung wurde den Gemeinden sogar eine Pionierfunktion bei der Verbesserung der Lebensverhältnisse zugesprochen.

Von staatlicher Seite waren die Sozialdemokraten in ihren Möglichkeiten beschnitten, indem auf den Ebenen unterhalb des Reiches mittels Drei-Klassen-Wahlrecht abgestimmt wurde. Personen mit höherem Steueraufkommen erhielten so ein höheres politisches Gewicht. Hinzu kamen restriktive Versammlungs- und Vereinsgesetze, unter deren Zuständigkeit auch politische Parteien standen, immer wiederkehrende Schikanen durch Behörden, Polizei und Arbeitgeber sowie ein mindestens tendenziöser, nicht selten klassenabhängig handelnder Justizapparat.

Die frühen Magdeburger Sozialdemokraten hatten schon aufgrund der lokalen Gegebenheiten einen schwe­ren Stand. Als Hauptstadt und Verwaltungs­zent­rum der preußischen Provinz Sachsen beherbergte Magdeburg viele Beamte und Angestellte. Da die Elbestadt im 18. und 19. Jahrhundert die stärkste Festung Preußens war, gab es einen relativ hohen Anteil an Militärangehörigen. Diese Gruppen waren traditionell konservativ bis nationalliberal eingestellt.

Die Anfänge der Magdeburger Arbeiterbewegung reichen bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Von einer eigenständigen Organisation kann man jedoch frühestens ab den 1860er Jahren sprechen, als durch einige Vertreter der Versuch unternommen wurde, sich aus der organisatorischen Abhängigkeit von Bürgertum und Liberalen zu befreien und einen eigenen Verein zu gründen. Ab dem Tag seiner Gründung im Sommer 1868 stand der Arbeiterverein Magdeburgs unter behördlicher Beobachtung. Rechtliche Grundlage von Überwachung und Schikane war das preußische Vereinsgesetz von 1850, das direkte Verbindungen von politischen Organisationen verbot. In den Statuten des Vereins wurde deshalb auf eine erklärte politische Ausrichtung verzichtet. Neben diese Probleme traten ganz praktische. Ein Lokal, das den Vereinsversammlungen offenstand, gab es nur in der Altstadt. Lange Arbeitszeiten machten es darüber hinaus vor allem den Mitgliedern aus den Randbezirken fast unmöglich, an Treffen teilzunehmen.

Mit der Reichsgründung kamen schwere Jahre auf die organisierten Arbeiter Magdeburgs zu. Die militärischen Erfolge festigten die bestehende Ordnung der Monarchie. Hinzu kam der wirtschaftliche Erfolg in den ersten Jahren des Kaiserreichs. Widerspruch konnte leicht als Verrat am Vaterland gebrandmarkt werden. Da sich vormals führende Sozialdemokraten Magdeburgs aus persönlichen Gründen zurück­zo­gen, gab es bis 1876 keine Organisation der Arbeiter in Magdeburg.

Vielversprechende Neuanfänge wie etwa die Gründung eines Vereins und die Etablierung einer Zeitung wurden durch die Sozialistengesetze ab 1878 wieder zunichte gemacht. Ohne organisatorisches Band wur­de die Arbeit erst eingestellt und dann nach und nach im Untergrund weitergeführt. Allerdings fällt auch ein erster bemerkenswerter Erfolg in diese Zeit. Mit August Heine zog 1884 das erste Mal ein Sozialdemokrat für Magdeburg in den Reichstag. Schon drei Jahre später musste man dieses Mandat allerdings wieder verloren geben. Ebenfalls 1887 kam es in Magdeburg zum sogenannten Geheimbund-Prozess. Wegen ihrer illegalen politischen Betätigungen wurden führende Magdeburger Sozialdemokraten angeklagt und schließlich zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Die organisierte illegale Arbeit kam infolgedessen fast vollständig zum Erliegen.

Unmittelbar mit dem Ende der Sozialistengesetze im Jahr 1890 bildeten sich zunächst Arbeitervereine in den einzelnen Stadtteilen, ein Jahr später für ganz Magdeburg. Mit der Volksstimme konnte schnell eine eigene Zeitung etabliert werden und erste Wahlerfolge stellten sich ein. Das Reichstagsmandat wurde zurückerobert, mit Wilhelm Klees gab es den ersten sozialdemokratischen Stadtverordneten. Die polizeilichen und behördlichen Maßnahmen ließen um die Jahrhundertwende jedoch keineswegs nach. Diese reichten so weit, dass sich der Sozialdemokratische Verein 1895 wieder auflöste und erst fünf Jahre später neu konstituierte.

Wichtigster Schauplatz der Kommunalpolitik war die Stadtverordnetenversammlung. Das dort angewandte Drei-Klassen-Wahlrecht und die öffentliche Stimmabgabe machten es den Sozialdemokraten außerordentlich schwer, auch nur einige wenige Mandate zu erringen. Nichtsdestotrotz waren ab 1890 permanent Sozialdemokraten im Stadtparlament vertreten. Für die etablierten bürgerlichen Vertreter war dies eine einschneidende Veränderung. Bis da­hin unter sich, wurden die Sozialdemokraten in erste Linie als Störenfriede empfunden.

Die 72 Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung von Magdeburg arbeiteten auf der Grundlage einer Magistratsverfassung. Als Exekutive an der Spitze der Verwaltung standen der Oberbürgermeister und der aus der Versammlung gewählte Magistrat. Allgemein war man mit den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft betraut, vor allem städtische Beschluss­fas­sung, Gemeindefinanzen und ausführende Rechte in Polizei- und Schulwesen. Die geltende Geschäfts­ord­nung verhinderte, dass die kleine sozialdemokratische Fraktion Anträge oder Anfragen einbringen konnte. Daneben wurden Dis­ziplinarmaßnahmen wie der Ordnungsruf immer wieder einseitig eingesetzt, oder es wurden Redebeiträge der Sozialdemokraten verhindert, indem die Mehrheit den Übergang zur Tagesordnung beschloss.

Trotz dieser Situation gelang es, einige beachtliche Erfolge zu erzielen. Dazu gehörte die Bekämpfung der Woh­nungsnot. Zumeist wurden die Probleme vom Oberbürgermeister und Magistrat nicht anerkannt. Im Ausschuss, der sich mit diesen Fragen befassen sollte, saßen überwiegend Hausbesitzer. Die Sozialdemokraten verlegten sich darauf, Vorschläge einzubringen, um Wohnraum mit städtischen Mitteln zu schaffen. Solange das Problem jedoch mangels eines anerkannten statistischen Nachweises geleugnet werden konnte, hatten sie wenig Erfolgschancen. Um Abhilfe zu schaffen, regten die Sozialdemokraten erfolgreich an, einen entsprechenden Bericht von der städtischen Armenverwaltung anfertigen zu las­sen, der die Beschreibungen der Sozialdemokraten stützte. Damit war das Problem nicht mehr wegzudiskutieren. Einige bürgerliche Abgeordnete wurden dadurch überzeugt. Als 1910 viele Krankheitsfälle hinzu­ka­men, die auf die schlech­te Wohnsituation zurückzuführen waren, wurde eine alte sozialdemokratische Forderung aufgegriffen und ein städtisches Wohnungsamt eingerichtet. Dieses hatte längst nicht alle Befugnisse, die man ursprünglich als nötig erachtete, um die Lage zu bessern und den Mietern etwas Schutz zu bieten. Doch nach vielen Jahren Arbeit war das zumindest ein konkreter Erfolg.

Die Lohnsituation der städtischen Arbeiter war ein weiterer wichtiger Punkt auf der Agenda der SPD. Nach langen und fruchtlosen Debatten wurde 1901 eine Statistik vom Magis­trat vor­gelegt. Diese mach­te sowohl auf die großen und kaum nachvollziehbaren Unterschie­de in der Besol­dung der einzelnen Gewerke als auch auf die Niedriglöhne aufmerksam. In der Folge konn­ten im Ver­bund mit den Gewerkschaften immer wieder kleine Verbes­se­run­gen erzielt werden, wie die Auszah­lung von Weihnachtsgeld, Bestimmungen zur Lohnfortzahlung im Krank­heits­fall oder Lohnsteigerun­gen für einzelne Gruppen. Die Anwesenheit im Stadtparlament ermöglichte es den Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang auch, unbequeme Fragen nach kürzlich erfolgter üppiger Besoldungserhö­hung für Oberbürgermeister, Magistrat und städtische Beamte zu stellen. Ein konkreter Erfolg für die Lohnsituation der städtischen Arbeiter konnte noch 1913 erzielt werden, indem eine vom Magistrat er­arbeitete Lohnklassenregelung angenommen wur­de, die Ordnung und Sicherheit für die Arbeiter brachte.

Als letztes Beispiel soll das Problem der Arbeitslosigkeit angeführt werden. Auch dieses wurde über Jahre hinweg vom Oberbürgermeister, Magistrat und der Mehrheit der bürgerlichen Abgeordneten nicht als Notlage anerkannt. Saisonale Schwankungen, vermeintliche Faulheit einzelner Arbeiter und öko­no­mi­sche Zwänge wurden als Relativierungen angeführt. Da die Sozialdemokraten nicht die Macht hatten, Beschlüsse zu fassen, war es auch hier das Vorgehen, das Thema aktuell zu halten, bei­spielsweise über organisierte Arbeitslosenversammlungen an öffentli­chen Plätzen. Einen belastbaren Nachweis lieferte dagegen das Statistische Amt Magdeburg. Die dort erfassten Zahlen boten wenig Möglichkeit zur Verwässerung. Eine Maßnahme, die auf Drängen der Sozialdemokraten folgte, war das Etablieren von städ­tisch organisierten und bezahlten Arbeitsstellen in größerer Zahl, die für einige Arbeitslose die gröbste Not lindern konnte.

Die genannten Beispiele lassen ein gewisses Muster erkennen, also immer wieder angewandte Strate­gien, die die Schikane und die fehlenden Möglichkeiten der Sozialdemokraten in der Kommunalpolitik zum Teil ausgleichen sollten. Über Jahre hinweg wurden Punkte der sozialdemokratischen Agenda, Wohnungsnot, Lohnsituation, Arbeitslosigkeit aber auch schmerzhafte Steuererhöhungen und Le­bens­mittel­teue­run­gen angesprochen und als städtische Aufgabe definiert. Falschen oder tendenziö­sen Mutmaßungen wurde mit zuverlässigen statistischen Erhebungen begegnet, im besten Fall von einer städtischen Ein­rich­tung selbst. So konnten einige Bürgerliche überzeugt werden, das Thema we­nigstens als dringlich anzu­se­hen und sich dessen auch anzu­neh­men. Nicht selten wurden im weiteren Verlauf Vorschläge der Sozialdemokraten aufgegriffen und wenigstens teilweise umgesetzt, freilich ohne die Vorarbeiten der Sozialdemokraten dabei offiziell anzuerkennen.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges konnten die Magdeburger Genossen auf eine unter den Umständen der Zeit durchaus positive Bilanz zurückschauen. Viele Möglichkeiten, die das System des Kaiserreichs, wenn auch nur eingeschränkt, bot, wie Organisations- und Wahlmöglichkeiten, liberale Presseland­schaft und gewisse Rechtsstaatlichkeit, wurden ge­nutzt, um Themen zunächst öffentlich zu besetzen, Lösungsvorschläge einzubringen und nicht selten über diverse Umwege wenigstens teilweise umzu­setzen. Wie vieles andere kam durch den Ersten Weltkrieg die kommunalpolitische Arbeit der Sozial­demokratie fast vollständig zum Erliegen. Mitgliederschwund, Burgfrieden und Versorgungsprobleme verschoben die Prioritäten zwangsläufig. Unter völlig veränderten Bedingungen konnten die Sozialdemokraten nach dem Krieg an bestehende Strukturen anknüpfen. Wie erfolgreich und langwirkend die Arbeit letzt­lich war, verdeutlicht vor allem der Umstand, dass Magdeburg in der gesamten Zeit der Weimarer Re­publik von sozialdemokratischen Oberbürgermeistern regiert wurde.

Literatur:

Asmus, Helmut, 1200 Jahre Magdeburg. Von der Kaiserpfalz zur Landeshauptstadt. Eine Stadtgeschichte, Bd. 3: Die Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Halberstadt 2005

Drechsler, Ingrun, Alle Gewalten zum Trotz. Hermann Beims Weg an die Spitze des Magistrats, in: Merckel, Ernst-Eugen (Hg.), Hermann Beims. Magde­burgs großer Oberbürgermeister 1919–1931, Magdeburg 1992, 7–17

Drechsler, Ingrun, Die Magdeburger Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg, Oschersleben 1995

Rebentisch, Dieter, Die deutsche Sozialdemokratie und die kommunale Selbstverwaltung. Ein Überblick über Programm­diskussionen und Organisationsproblematik 1890-1895, Archiv für Sozialgeschichte 25 (1985), 1–78

von Saldern, Adelheid. Sozialdemokratische Kommunalpolitik in Wilhelminischer Zeit. Die Bedeutung der Kommunalpoli­tik für die Durchsetzung des Reformismus in der SPD, in: Naßmacher, Karl-Heinz (Hg.), Kommunalpolitik und Sozialdemokratie. Der Beitrag des de­mokratischen Sozialismus zur kommunalen Selbstverwaltung, Bonn/Bad Godesberg 1977, 18–62.