„Stadtmütter werden!“ Kommunalpolitisches Engagement als Methode der bürgerlichen Frauenbewegung auf dem Weg zur politischen Gleichberechtigung

Kerstin Wolff

Dass Politik und Staatsleben im 19. Jahrhundert eine rein männliche Angelegenheit waren, betonen nicht nur heutige Historiker und Historikerinnen. Auch Zeitgenossen fanden klare Worte, um die Beziehung von Frauen zum Staat bzw. zur Politik zu beschreiben. So stellte der Jurist und Staatstheoretiker Johann Caspar Bluntschli 1870 in einem Deutschen Staatswörterbuch den Staat „unzweifelhaft“ als ein „männliches Wesen“ dar, der die „Aufgabe und Sorge der Männer“ bedürfe. Die Teilnahme von Frauen am Staatsleben – so Bluntschli – sei „für den Staat gefährlich und für die Frauen verderblich“. Die Definition des Staates als männliches Wesen wurde dabei von der Vorstellung flankiert, dass alleine durch den Akt der Wahl, also durch die Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte, entweder die Frauen oder der gesamte Staat zu Schaden kommen könnten. So polemisierte zum Beispiel der Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation gegen die Bestrebungen, das Frauenwahlrecht einzuführen, mit dem Argument, das Staatsleben würde auf einer „natürlichen“ Arbeitsteilung der Geschlechter aufgebaut sein. In den Worten des Bundes: „Die menschliche Kultur, wie wir sie heute haben, beruht auf der naturgemäßen Arbeitsteilung, nach welcher die Männer in Gemeinde und Staat, die Frauen in Haus und Familie die verantwortliche Arbeit leisten. Die Mannweiber, die das Frauenstimmrecht fordern, werden unsere Kultur zu einer Suffragettenkultur degradieren.“

Aus diesen Äußerungen und der Tatsache, dass Frauen bis 1919 sowohl vom aktiven als auch vom pas­si­ven Wahlrecht auf allen politischen Ebenen (fast gänzlich) ausgeschlossen waren, wird häufig ge­schlos­sen, dass Frauen generell an einer politischen Partizipation nicht teilnehmen konnten. In der Literatur ist dann zu lesen: „Im Gegensatz zu Männern, die auch bei geringem Verdienst zumindest an den Reichs- und Landtagswahlen teilnehmen konnten, waren Frauen von der politischen Partizipation bis zum Ende des Kaiserreichs gänzlich ausgeschlossen. Sie besaßen weder das kommunale noch das nationale Wahlrecht.“

Oder ein anderer Autor:

„Zumeist blieben Frauen vom städtischen Bürgerrecht ausgeschlossen (…). Hier (im Ausschluss der Frauen vom aktiven Wahlrecht; K.W.) zeigt sich die partielle Exklusion der Frauen aus dem bürgerlichen Klassenverband in aller Schärfe: Frauen galten als politisch unmündig, sie wurden deshalb von der städtischen Selbstverwaltung ausgeschlossen.“ Auf der rein faktischen Ebene beschreibt dies korrekt den Ausschluss von Frauen vom Akt des Wählens. Aber ist denn die Wahl die einzige Möglichkeit Politik zu gestalten?

Zweifel dürfen angemeldet werden, denn es zeigt sich bei der Untersuchung zeitgenössischer Stadtchroniken, dass ein Engagement von vor allem bürgerlichen Frauen im Kaiserreich durchaus aufzufinden ist. Es sind vor allem die vielthematischen Frauenvereine, die hier in den Fokus geraten. Sie grün­de­ten Altenheime und Kindergärten, stifteten Kran­ken­häu­ser, betrieben Lesehallen und Mittagstische – alles Unternehmungen, die als praktische Kommu­nal­po­litik gewertet werden können. Was also passierte in den Kommunen des 19. Jahrhunderts genau, und warum engagierte sich vor allem die bürgerliche Frauenbewegung so dauerhaft im städtischen Raum?

Worum geht es in der Kommune?

Um diese Fragen beantworten zu können, muss erst einmal geklärt werden, was unter Kommunalpolitik um 1900 zu verstehen ist. Folgt man den zeitgenössischen Diskussionen, so findet sich in den gängigen Lexika und politischen Handbüchern keine feste und klar umrissene Definition. Das, was im 19. Jahrhundert im Zentrum der Aufmerksamkeit und der Diskussionen stand, bezog sich auf die kommunale Selbstverwaltung, verstanden als die Aktionen und Interaktionen der städtischen Verwaltungsorgane. Diese kommunale Selbstverwaltung war im gesamten 19. Jahrhundert einem starken Wandel ausgesetzt und veränderte sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv. Aus dieser Selbstverwaltung waren Frauen – qua Geschlecht – komplett ausgeschlossen. Weitet man aber den Blick und nimmt „institutionell weniger verfestigte Partizipationsformen“ in den Blick, ergibt sich ein radikaler Perspektivwechsel, „eine andere Auffassung von Politik und politischem Handeln und eine Umkehr der „Relevanzhierarchie“ der historischen Forschung“. Wie das konkret aussieht, welche Folgen das kommunalpolitische Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung hatte und wie dieses in das Politikverständnis der Frauenbewegung einge­bet­tet war, möchte ich am Beispiel des Casseler Frauenbildungs­vereins (CFBV) und seiner Schulpolitik aufzeigen – ein unbestreitbar wichtiges kommunalpolitisches Thema.

Der CFBV und seine Schulpolitik

Der CFBV gründete sich 1870, anlässlich der Generalversammlung des Allgemeinen deutschen Frauen­ver­eins (ADF), der sich als Dachorganisation der entstehenden Frauenbildungsvereine verstand. Das selbst­gesteckte Ziel des Vereins war es, die Bildungssituation von jungen Frauen und Mädchen vorzugsweise der bürgerlichen Stände in der Stadt zu verbessern, um diesen eine eigenständige Erwerbsarbeit zu ermöglichen. Hintergrund war eine zunehmende Frauenarmut der bürgerlichen Schichten, die sich aus der starken Veränderung der Familienstrukturen durch die Industrialisierung ergab. Mit diesem CFBV, der in den nächsten Jahren eine Reihe von Bildungsein­rich­tun­gen für Mädchen und Frauen gründete, setzte in der Stadt eine Entwicklung ein, die die schulischen und außerschulischen Ausbildungsmöglichkeiten für Frau­en massiv verbesserte. Der CFBV, unter seiner langjährigen Vorsitzenden Marie Calm wuchs in den ersten Jahren stark an und hatte um die Jahrhundertwende etwa 350 Mitglieder. Als seine Aufgabe sah er es an,

„den Frauen Gelegenheit (zu; K.W.) bieten, sich für einen Lebensberuf tüchtig zu machen, um die notwendige wirtschaftliche Selbständigkeit zu erlangen, die zur inneren Selbständigkeit, zur Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit die notwendige Grundlage bietet.“

Der CFBV gründete bereits in seinem Entstehungsjahr 1870 eine Fachschule für confirmierte Mädchen. Dafür arbeitete der Verein eng mit der Stadt Kassel, dem Kommunallandtag (Vorgänger des LWV, zuständig für Schulen, Fürsorge etc.; K.W.) und der „königlichen Regierung“ zusammen. Finanziert wurde die Schule durch Schulgeld, Zuschüsse des Vereins und eine jährliche finanzielle Unterstützung der Stadt. Die Berichte des CFBV, die für den gesamten Zeitraum der Schulträgerschaft vorliegen, vermitteln das Bild einer harmonischen und produktiven Zusammenarbeit mit allen zuständigen Behörden.

In den Jahrzehnten des Bestehens des Vereins baute dieser in Kassel eine Schule mit diversen Ausbildungszweigen und einen Kinderhort auf, die alle zu Beginn der Weimarer Republik in die Trägerschaft der Stadt übernommen wurden – die weiterbildende Schule existiert bis heute. Mit seinem Ansatz verfolgte der CFBV ein dezidiert emanzipatorisches Ziel, nämlich das Selbstständigwerden junger Frauen in einem Beruf, sei es als Lehrerin, kaufmännische Angestellte oder als verheiratete Ehefrau und Mutter, die es dank ihrer guten Ausbildung verstand, ihren Beruf auszufüllen und zu meistern.

Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaates

Aber, dem CFBV als Zweig der bürgerlichen Frauenbewegung ging es nicht alleine um die Verbesserung der schulischen Situation von Frauen und Mädchen. Mit dieser Schulgründung mischte sich der Verein aktiv in den Ausbau der Kommune ein, indem er eine Institution schuf, die die Stadt fit für das 20. Jahrhundert machte. Und dies geschah nicht nur in Kassel! Die ADF-Aktivistinnen, von denen es hunderte in fast allen Städten des Kaiserreichs gab, nahmen selbstbewusst und selbstverständlich ihre Rolle als Bürgerinnen in der Kommune an und schufen ein auf Frauen ausgerichtetes Fürsorgenetz, welches sie in den allgemeinen Ausbau der sozialen Infrastruktur der Städte integrierten. Sie nutzten damit die Möglich­kei­ten, die in den 1870er und 1880er Jahren im Aufbau der Stadtgemeinden lag und beeinflussten diese in ihrem Sinne. Die theoretische Forderung der Berufs- und Ausbildungsfreiheit für das weibliche Geschlecht wurde so praktisch umgesetzt und gleichzeitig auch der Platz der Bürgerin in der Kommune selbstbewusst besetzt. Die Schulgründungen der Frauenbildungsvereine stellten in den 1870er Jahren einen entscheidenden Modernisierungsschub des Mädchenschulsystems dar; ein Schub, der nicht von städtischer oder staatlicher Seite aus erfolgte, sondern „privat“ – aus der Vereinstätigkeit der Frauenbildungsvereine. Spätestens zu Beginn der Weimarer Republik konnten dann die Städte gut funktionierende Schulinfrastrukturen für Mädchen übernehmen, die sie selber nicht aufgebaut hatten.

Die hier sichtbar werdende aktive kommunale Aufbauarbeit ist Teil der städtischen Politik. Diese Form der politischen Partizipation entstand in einer gesamtgesellschaftlichen Phase der „Fundamentalpolitisierung“, verstanden als eine zunehmende politische Partizipation aller Bevölkerungsgruppen, die in Vereinen, in den Medien und in öffentlichen Versammlungen politische Fragen diskutierten und in Eigeninitiative Lösungen für gesamtgesellschaftliche Probleme suchten. Kirsten Heinsohn hat darauf hingewiesen, dass dieser Prozesse nicht nur den männlichen Teil der Bevölkerung erfasste, sondern auch den weiblichen. Der Aufbau kommunaler Strukturen, die die ADF-Ortsgruppen in den 1870er und 1880er Jahren leisteten, sind damit als eine spezifische weibliche Form der Beteiligung am politischen Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, als Ausdruck der Fundamentalpolitisierung von Bürgerinnen, die damit nicht nur Nutznießerinnen dieses Prozesses wurden, sondern ihn auch zugleich weiter anfeuerten.

Was sollte erreicht werden – und was wurde erreicht?

Integriert war dieses Engagement der Frauenbildungsvereine in die Idee der bürgerlich-gemäßigten Richtung der Frauenbewegung, ein bürgerschaftliches Engagement in der Kommune würde den Weg bereiten, für die Anerkennung als vollumfängliche Staatsbürgerinnen. Hier machte sich die Frauenbewegung die Vorstellungen liberaler Staatstheoretiker zunutze, die davon ausgingen, dass die kommunale Arbeit langsam aber sicher auch die Staatsspitze und die Politik des Staates verändern würden, denn alle Glieder eines Staates – so Hugo Preuss in den 1880er Jahren – seien wesensgleich und unterschieden sich lediglich in der Größe. Das heißt, dass alle Staatsebenen mit grundsätzlich gleichen Rechten, Pflichten und Funktionen versehen waren. Alles was also auf der Gemeindeebene passierte, setze sich zwangsläufig auch auf der nächsthöheren Ebene fort, so lange bis diese Entwicklung auch die Staatsspitze ergriffen hatte.

Diese Idee nutzte die bürgerliche Frauenbewegung nun für ihre eigene Arbeit. Sie nahm an, dass sie durch eine aktive Mitarbeit in der Kommune den langen Weg hin zur vollen staatsbürgerlichen Anerkennung von Frauen gehen könne. Die Kommune wurde damit zu dem Ort, an dem die Frauenbewegung ganz praktisch „bewies“, dass es sinnvoll ist, auch Frauen als Staatsbürgerinnen einzusetzen. Dies wäre auch deshalb dringend notwendig – so die bürgerliche Frauenbewegung –, weil die bisherige Gesellschaft, durch die einseitige Bevorzugung des Männlichen, eine rein männliche Gesellschaft sei – und keine menschliche. Wenn dies verändert werden solle, müssten Frauen ihren spezifischen Anteil beim Auf- und Ausbau der Gesellschaft einbringen dürfen, denn nur Frauen seien in der Lage, die Gesellschaft „weiblicher“ zu machen. Aus der Zusammenarbeit von Männern und Frauen könne dann eine wahrhaft menschliche Gesellschaft entstehen. Beginnen sollte dieser Prozess in der Kommune, die damit zu einem politischen Utopieraum wurde, indem die in ihrem Rahmen geleistete emanzipatorische Arbeit langsam auf den Staat übergehe und diesen dadurch verändere. Das kommunalpolitische Engagement der bürgerlichen Frauenbewegung ist also ein Ringen um die Gewährung vollumfänglicher Staatsbürgerinnenrechte.

––––––––– Die kommunale Arbeit sollte langsam aber sicher auch die Staatsspitze und die Politik des Staates verändern.

Neuere Forschungsarbeiten weisen darauf hin, dass ein „Nebeneffekt“ dieses kommunalpolitischen Engagements der bürgerlichen Frauenbewegung darin bestand, dass der sich im Aufbau befindliche Wohlfahrtsstaat einen kräftigen Schub erhielt. Schulen, Krankenhäuser, Altenheime und Kindergärten wurden durch die Frauenbewegung ebenso gegründet wie Erholungsheime, Lesesäle oder Volksküchen. Diese Einrichtungen, die in vielen Fällen zu Beginn der Weimarer Republik in staatliche Hände übergingen, sind als Elemente eines erstarkenden Wohlfahrtsstaates zu verstehen. Die Aktivistinnen der Frauenbewegung bauten dabei soziale, karitative und auf das weibliche Leben ausgerichtete Fürsorgeeinrichtungen auf und ergänzten damit den als männlich gedachten Staat. So verstanden ist die kommunalpolitische Arbeit der Frauenbewegung sowohl ein emanzipativer Abschnitt auf dem Weg zur Anerkennung der Staatsbürgerschaft der Frau als auch ein Engagement für den Wohlfahrtsstaat des 19. und 20. Jahrhunderts – speziell für weibliche Belange. Es zeigt sich damit überdeutlich, dass sich die aktive Stadtbürgerin bereits im 19. Jahrhunderts aufgemacht hatte, ihre Gemeinde zu verändern – und das auch ohne Wahlrecht!

Literatur:

Heinsohn, Kirsten, Ambivalente Entwicklungen. 150 Jahre Frauenbewegung, Politik und Parteien, in: Ariadne, 67/68 (2015), 40–49

Richter, Hedwig/Kerstin Wolff (Hg.), Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa,
Hamburg 2018

Wolff, Kerstin, Unsere Stimme zählt. Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts, Überlingen 2018

Wolff, Kerstin, Stadtmütter. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900),
Königstein/Taunus 2003

Wolff, Kerstin, „… und frage vergebens nach den Müttern in der Stadt.“ Überlegungen zu weiblichen und männlichen Zugängen zur bürgerlichen Kommunalpolitik, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, 14 (2002), 41–69