Reichsgründung – Ein Erinnerungsort im deutschen Judentum?

Tobias Hirschmüller

Allein die Fragestellung dieses Beitrags, ob die Reichsgründung ein Erinnerungsort im deutschen Judentum ist, könnte schon Einwände hervorrufen. Gab oder gibt es denn genau ein „deutsches Judentum“, dem sich einheitliche Einstellungen zuschreiben lassen, oder nicht eher viele jüdische Deutsche mit ganz unterschiedlichen Weltsichten? Es muss klar sein, dass es nur darum gehen kann, Anschauungen zu benennen, die innerhalb dieser Gruppe besonders häufig auftraten, und ein Bild von ihrer Verteilung zu skizzieren. In dem Wissen, dass dieses Bild immer vereinfacht sein wird und nicht alles enthalten kann, was gesagt und gedacht wurde.

Zeitungen als Quelle zur Geschichte der deutschen Juden

Zeitungen stellen eine wichtige Quelle für die Geschichtswissenschaft dar, ganz besonders für große Teile des 19. und des 20. Jahrhunderts, in denen sie im gesamten transatlantischen Raum das entscheidende Nachrichtenmedium waren. Ermöglicht wurde dies durch eine bis dahin noch nie dagewesene Alphabetisierungsrate und dadurch, dass günstigere Produktion und steigender Wohlstand einer verhältnismäßig großen Anzahl von Menschen Zugang zum Erwerb von Zeitungsausgaben verschaff­ten. Ein Bewusstsein für die Relevanz dieses Mediums war auch in allen größeren Strömungen des Judentums gegeben, wodurch im 1871 gegründeten Deutschen Kai­ser­reich ein breites Spektrum an speziell jüdischen Monats- und Wochenzeitungen entstand. Für die Geschichtswissenschaft bilden diese Periodika somit eine zentrale Fundgrube für die Erforschung der Geschichte des deutschen Judentums, zumal durch den Nationalsozialismus viele andere Dokumente vernichtet wurden. Doch darf dabei nicht vergessen werden, dass es sich bei den abgedruckten Texten um die Botschaft von Journalistinnen und Journalisten handelt, während die Reaktion der Leserschaft in der Regel nicht bekannt ist. Trotz dieser Einschränkungen soll hier anhand jüdischer Periodika der Frage nachgegangen werden, welche Relevanz die Gründung des ersten deutschen Nationalstaates für Deutsche mit jüdischem Glauben besaß.

Als die drei wichtigsten politischen und religiösen Richtungen im Judentum gelten die liberale, die orthodoxe und die zionistische. Der größte Teil der liberalen Juden war im „Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) organisiert, bei dem das Selbstverständnis vorlag, sich zuerst als deutsche Staatsangehörige zu fühlen und einen assimilierten Lebensstil zu pflegen. Als religiöse Gegen­be­wegung zu jenem reformierten Judentum war in der Mitte des 19. Jahrhunderts die orthodoxe Strömung entstanden, die auf eine konsequente Befolgung der jüdischen religiösen Regeln bestand. Wenn die Orthodoxen auch keine homogene Gruppe bildeten, einte sie doch die Ablehnung der vom CV vertretenen Assimilation. In der Gegenposition zum liberalen Judentum be­stand eine Gemeinsamkeit mit den Zionisten, die nicht wie der CV das Judentum als Religion verstan

den, sondern die das nationalpolitische Ziel der Gründung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina verfolgten und hierfür unter anderem in der „Zio nistischen Vereinigung für Deutschland“ organisiert waren. Von diesen drei war das Gedenken an die deutsche Einigung zu Jahrestagen in der liberalen am stärksten und in der zionistischen am wenigsten präsent. Von einer konstanten Erinnerungskultur an die Reichsgründung kann insbesondere in der liberalen „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ gesprochen werden. Das Blatt ist durch seinen langen Erscheinungszeitraum von 1837 bis 1922 eines der bedeutendsten deutschsprachigen jüdischen Periodika.

Umstrittene Gedenktage

Bereits der Verlauf des Deutsch-Französischen Krieges hatte in der jüdischen Presse in den deutschen Staaten eine Vielzahl von heterogenen Reaktionen hervorgerufen. Die Forschungen von Christine Krüger zeigen ein Konglomerat aus innerjüdischen Differen­zen und Loyalitätskonflikten, wobei die grundsätzliche Wertschätzung gegenüber den Glaubensbrüdern auf der Gegenseite, den französischen Juden, immer gewahrt blieb.

Hinsichtlich der historischen Erinnerungsdaten kann festgehalten werden, dass im Vergleich zu anderen Teilen der Bevölkerung der Geburtstag des sogenannten „Reichsgründers“ Otto von Bismarck am 1. April eher eine geringe Rolle spielte. In liberalen, konservativen und völkischen Kreisen im Deutschen Reich war dies ein zentraler Festtag. In der jüdischen Presse wurde darauf kaum Bezug genommen, abgesehen vom 100. Geburtstag des „eisernen Kanzlers“ – eine Bezeichnung, mit der auch liberale Juden ihre Wertschätzung zum Ausdruck brachten. Mehr präsent waren in der jüdischen Presse der 18. Januar, der Tag der Kaiserproklamation 1871 in Versailles, sowie die Erinnerung an die Schlacht von Sedan um den 2. September. Wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass beide Ereignisse in der liberalen jüdischen Presse nicht jährlich kommentiert wurden, sondern zu größeren Jubiläen, wie zu jeder vollen Dekade oder insbesondere den 25. Jahrestagen in den Jahren 1895/1896.

Die Kaiserproklamation sym­bolisierte hierbei die Herstellung des deutschen Nationalstaates, die jüdischen Zeitungen verbanden damit die in der Reichsverfassung verankerte Gleichberechtigung der Religionen und so die Anerkennung der jüdischen Deutschen als Staatsbürger und Staatsbürgerinnen. Bei der Erinnerung an die Schlacht von Sedan standen die Leistungen der Soldaten mit jüdischem Glauben im Zentrum. Deren Einsatz- und Opferbereitschaft galt als Nachweis, dass die deutschen Juden ihren Beitrag bei der Herstellung des neuen deutschen Kaiserreiches erbracht hatten, sich als Deutsch fühlten und somit die rechtliche Gleichstellung auch verdient hatten.

Kaisertreue statt Bismarckkult

Von den berühmten Einzelpersonen rund um die Herstellung der deutschen Einheit besaß Bismarck im Vergleich zu dem seit den 1870ern vielerorts entstehenden Mythos, der ihn als „Reichsschmied“ feierte, in den jüdischen Zeitungen eher eine untergeordnete Rolle. Selbst die liberale jüdische Presse ging auf Distanz zum „Heroenkult“ um den preußischen Staatsmann. Mehr Wertschätzung als Bismarck erfuhr Helmuth von Moltke, dem als Chef des Generalstabs der preußischen Armee der entscheidende Anteil an den militärischen Siegen in den „Einigungskriegen“ zugeschrieben wurde. Als „treue Söhne des deutschen Vaterlandes betrauern auch die deutschen Juden den Heimgang des großen und edlen Mannes“, schrieb die „Allge­mei­ne Zeitung des Judentums“ zu Moltkes Tod im April 1891.

Als zentrale Figur bei der Herstellung des Reiches galt Kaiser Wilhelm I., der in der liberalen Presse als „Heldenkaiser“ verehrt wurde. Ihm sei die Gleichberechtigung der Juden in Deutschland im Jahr 1871 zu verdanken, hieß es, und er galt als Garant, dass diese Er­run­genschaft auch gewahrt blieb. Auch nach dem Tod das alten Kaisers 1888 und der Entlassung Bismarcks 1890 setzte keine Aufwertung des „Alten im Sachsenwald“ ein. Zum 25. Jahrestag kam etwa die orthodoxe Zeitung „Die jüdische Presse“ ohne die Erwähnung von Bismarck aus und schloss mit den Worten: „Heil unserem Kaiser! Heil dem deutschen Reich!“

Um solche nationalbewussten Äußerungen zu verstehen, sollte nicht vergessen werden, dass alle Bezugnahmen zur Kaiserproklamation oder der Sedanschlacht nicht nur Teil einer innerjüdischen Selbstverständigung waren. Die Botschaft war auch an die übrigen Deutschen gerichtet und somit Ausdruck einer Abwehrhaltung gegenüber steigendem Antisemitismus. Durch den Verweis auf die jüdischen Leistungen bei der Reichsgründung sollte über die rechtliche auch die mentale Anerkennung als Deutsche erzielt werden. Dementsprechend war in den Kommentaren zu Sedanfeiern oft eine Entgegnung auf antisemitische Aussagen anzutreffen, die den deutschen Juden ihre Leistungen im Deutsch-Französischen Krieg absprachen und darüber hinaus Juden zu Feinden des Reiches verunglimpften. Die „Allgemeine Zeitung des Judentums“ war hierfür auch bereit, die Kritik der Sozialdemokratie an den Sedanfeiern zu verurteilen. Andererseits darf aber nicht vergessen werden, dass in der liberalen jüdischen Presse auch die französischen jüdischen Soldaten des Krieges von 1870/1871 für den Einsatz für ihr Vaterland Wertschätzung erfuhren.

Neupositionierungen und alte Konflikte in der Weimarer Republik

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Sturz der Monarchie verlor die Reichsgründung auch in der liberalen jüdischen Presse an Bedeutung, da die Redaktionen sich mit der neuen demokratischen Staatsform arrangieren wollten und konnten. Dies verdeutlicht insbesondere das Jahr 1921, als sich die Kaiserproklamation zum 50. Mal jährte. Von der KPD-Presse über die Zeitungen in der bürgerlichen Mitte bis zu den völkischen Blättern wurde der Jahrestag kommentiert. In den jüdischen Zeitungen, auch in den liberalen, waren hierzu kaum mehr Bezugnahmen anzutreffen. Eine Ausnahme bildete „Der Schild“, die Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten. Hier wurden die „Blutopfer“ des Weltkrieges in die Tradition des Deutsch-Französischen Krieges gestellt. Doch war auch dies wieder in erster Linie der Abwehr von Hass gegen die Juden in Deutschland geschuldet.

Hierin war auch eine Konstante in den übrigen jüdischen Zeitungen anzutreffen. Denn wenn auch nicht mehr aus eigener Initiative an die Kaiserproklamation oder Sedan erinnert wurde, so finden sich doch immer wieder Berichte, dass Juden die Teilnahme an entsprechenden Feierlichkeiten verweigert wurde. Die „Hakenkreuzler“ galten durch ihr Benehmen jedoch als die eigentlichen Störenfriede nationaler Gedenkfeiern. So schrieb die vom „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ herausgegebene „Central-Verein-Zeitung“ im Januar 1930:

„Es blieb den Nationalsozialisten vorbehalten, die schöne und würdige Tradition der akademischen Reichsgründungsfeiern durch eine gerade an diesen Tagen besonders beschämende Hetze zu durchbrechen.“

Die Bekenntnisse zum 1871 entstandenen Reich und die Erinnerung an die Verdienste der Juden bei der Herstellung der deutschen Einigung konnten jedoch die von den Redaktionen damit erhofften Ziele wie zuvor in der Monarchie nicht erreichen. Die völkischen Kreise und schließlich die Nationalsozialisten nutzten Bismarck und dessen Antisemitismus, um die Juden als Feinde Deutschlands zu diskreditieren.

Ambivalente Perspektiven nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach 1945 hatte die Erinnerung an das 1871 entstandene Reich als historische Bezugsgröße bei den Juden in Deutschland endgültig ihre Bedeutung verloren. Zudem erreichte die jüdische Presse in beiden deutschen Teilstaaten nicht mehr die Blüte, wie zur Zeit der Weimarer Republik. Die „Allgemeine Jüdi­sche Wochenzeitung“, ab 2002 „Jüdische Allgemeine“, das auflagenstärkste deutschsprachige jüdische Blatt der Nachkriegszeit, sieht sich in der Tradition der liberalen Zeitungen des Judentums. Sie bezog anlässlich von Reichsgründungsjubiläen in der Bundesrepublik 1951 und 1961 und selbst zum 100. Jahrestag 1971 keine Stellung. Distanziert wurde auf die Feierlichkeiten zu Bismarcks 150. Geburtstag 1965 kommentiert, bei der Würdigung von dessen realpolitischen Fähigkeiten dürfe nicht vergessen werden, dass der bisherige Verlauf des 20. Jahrhunderts „nicht zu einer positiven Bewertung der sogenannten Realpolitik“ ermu­ti­ge. Auch anlässlich des „Preußenjahres“ 2001 schrieb der Historiker Wolfgang Wippermann in dem Blatt, trotz „vielgerühmter Toleranz der Hohenzollern“ seien die Juden „Preußen zweiter Klasse“ geblieben. Eine wirkliche Emanzipation sei nach 1871 deswegen nicht erfolgt, weil die hierfür notwendige Einbürgerung wegen des in Preußen 1842 eingeführten „Blutrechtes“ nicht erfolgen konnte. Gleichwohl führte Wippermann letztlich an: „Und für die Schoa wird man Preußen nun wirklich nicht verantwortlich machen können.“

Die Ambivalenz, die Bismarck und das Jahr 1871 für deutsche Juden bis heute in sich bergen, fasste der israelische Historiker Moshe Zimmermann anlässlich des 200. Geburtstages des „Reichsgründers“ im Jahr 2015 in der „Jüdischen Allgemeinen“ zusammen. Die Reichsgründung bedeutete die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung einerseits, ein Anwachsen des Antisemitismus in den folgenden Jahrzehnten andererseits. „Ich liebe sie unter Umständen“, habe Bismarck selbst geäußert. Zimmermann verwies zudem darauf, dass sich der Zionismus die judenfeindliche Haltung des „Alten im Sachsenwald“ zu Nutze machen wollte. Zudem Besaß Bismarck in der nationalen Frage auch eine Vorbildfunktion:

„Für den Vater des Zionismus, Theodor Herzl, war Bismarck wahrscheinlich weniger ein Instrument des Antisemitismus, sondern vielmehr der ultimative Schulmeister in Sachen Nationalismus.“

Schließlich, so Herzl, habe der erste Reichskanzler mit dem geeinten Deutschland erreicht, wonach die zionistische Bewegung für die Juden strebe, eine Vereinigung in ihrer „Heimstätte“. Eine konstante Erinnerung besitzen jedoch Bismarck und das Jahr 1871 in der jü­di­schen Presse nicht mehr. Hierin besteht eine Parallele zur Mehrheit der übrigen bundesdeutschen Bevölkerung, bei welcher der Prozess der Reichsgründung im 19. Jahrhundert mittlerweile entweder im kollektiven Gedächtnis nicht mehr präsent ist oder als identitätsstiftender Faktor keine Relevanz mehr besitzt.

Zusammenfassung

Dieser kurze Themenaufriss zeigt, dass die Reichsgründung vor allem in der liberalen jüdischen Presse einen Erinnerungsort bildete. Die von jüdischen Soldaten erbrachten Leistungen in den „Einigungskriegen“ galten als Beleg für deren deutsches Nationalbe­wuss­tsein und damit die legitime Gleichberechtigung in der Reichsverfassung, in zunehmendem Maße aber auch für die Existenzberechtigung von jüdischem Leben in Deutschland. Diese letzte Funktion behielt die Erinnerung an die Reichsgründung bei, wenn auch neue, demokratische Erinnerungsorte nach 1918 die Jahre 1870/1871 als Identitätsbezug auch im liberalen Judentum schnell abgelöst hatten. Nach dem Zweiten Weltkrieg besaßen die nationale Einigung der Deutschen im 19. Jahrhundert und deren Folgen kaum mehr eine Bedeutung in der jüdischen Erinnerungskultur in der Bundesrepublik. Sie dient gegenwärtig als Beispiel für die Ambivalenz der Erfahrung mit deutschen Identitätskonstruktionen, die auch 150 Jahre später formale Anerkennung und gleichzeitig immer wieder vorkommende Ablehnung beinhalteten. In diesem Sinne ist die Reichsgründung als Erinnerungsort im deutschen Judentum ein Indikator für das angespannte Verhältnis zum Umfeld gewesen und geblieben.

Literatur:

Eikenberg, Gabriel, Der Mythos deutscher Kultur im Spiegel jüdischer Presse in Deutschland und Österreich von 1918 bis 1938, Hildesheim 2010

Krüger, Christine G., „Sind wir denn nicht Brüder?“ Deutsche Juden im nationalen Krieg 1870/71, Paderborn 2006

Lindner, Erik, Patriotismus deutscher Juden von der napoleonischen Ära bis zum Kaiserreich. Zwischen korporativem Loyalismus und individueller deutsch-jüdischer Identität,
Frankfurt am Main 1997

Panter, Sarah, Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2014