Demokratische Intellektuelle im Kaiserreich

Marcus Llanque

Gab es „demokratische“ Intellektuelle im Kaiserreich? Bereits das Verhältnis der meisten Intellektuellen der Kaiserreichs-Zeit zur Politik im Allgemeinen war spannungsreich, und das prägte auch ihre Einstellung zur Idee und Praxis der Demokratie. Ohne Zweifel gab es demokratische Züge in der politischen Ordnung des Kaiserreichs. Je weiter man sich von der Reichsebene entfernt, stößt man auf demokratische Praktiken, von vielen einzelnen Regionen des Deutschen Reichs ganz abgesehen. Doch für Intellektuelle war Demokratie noch keine zivilgesellschaftliche Aktivität (nur wenige kannten Tocqueville und niemand sprach von Zivilgesellschaft), sie verbanden mit Demokratie vor allem die nationale Politikebene. Ohne ausdrücklich anti-demokratisch eingestellt zu sein, war eine gewisse Demokratie-Skepsis auf der nationalen Ebene unter Intellektuellen, die sich ansonsten als progressiv, autonom und humanitär eingestellt verstanden, weit verbreitet.

Man kann zwei große, demokratie-affine Intellektuellen-Gruppen unterscheiden. Die eine identifizierte sich mit dem Bürgertum, die andere mit der Arbeiterbewegung. Hier wird daher nicht von einer ursächlichen Beziehung zwischen sozialem Status oder Herkunft einerseits und der politischen Haltung als ideologischer Konsequenz ihrer gesellschaftlichen Positionen andererseits ausgegangen, sondern von einer Deutungspraxis der Selbstidentifikation, auf welche unterschiedliche Faktoren Einfluss haben, neben so­zia­len Strukturen vor allem Interpretationswege. Beide Intellek­tu­el­len-Gruppen waren nur in wenigen Fällen intrinsisch von der Demokratie als Ziel und Zweck der Politik überzeugt, die meisten sahen die

Demokratie eher als Mittel an zum Erreichen höherer Zwecke wie die politische Emanzipation der Arbeiterschaft oder die Bewahrung der Nation. Beide Grup­pen thematisierten die Demokratie immer auch als Problem oder sogar als Gefahr, was weniger mit der Unterstützung der Demokratie als po­li­tischer Idee zu tun hat als mit der Analyse der Möglichkeit ihrer Umsetzung unter den modernen Bedingungen von Politik und Gesellschaft. Diese Probleme und Gefahren bündelten sich in der Aufgabe der Integration der „Masse“. Daher war auch die „Massendemokratie“ ein häufig benutzter Begriff zur Bezeichnung der Schwierigkeiten und vor allem auch Gefahren moderner Demokratisierung. Für liberale Intellektuelle war der Staat, auch der Rechtsstaat, angeführt durch aus dem Bürgertum rekrutierte intellektuelle, insbesondere juristische und ökonomische Eliten eine Art Bollwerk gegen die Masse. Sozialistische Intellektuelle deuteten das Problem der Masse in die Aufgabe ihrer „Organisation“ um, wobei selbstverständlich der Partei die Führungsaufgabe zukam.

Diese Demokratie-Skepsis hatte mit der Annahme zu tun, dass „Demokratie“ unter modernen Bedingungen und auf große Territorien mit großen Populationen bezogen unter dem Verdacht stand, „Massendemokratie“ sein zu müssen. „Demokratie“ unter modernen Bedingungen bedeutete die Einbeziehung der Masse, was die Gefahr der „Demagogie“ mit sich brachte. Demagogen waren aus liberaler Sicht nicht nur Gestalten wie Ferdinand Lassalle gewesen, son­dern am erfolgreichsten Otto von Bismarck, der das demokratische Männerwahlrecht zum Reichstag als Mittel zur Balancierung des liberalen Bürgertums instrumentalisierte, so jedenfalls lautete ein weit ver­brei­teter Vorwurf. Zu ihnen gehörten liberale Wissenschaftler wie Hugo Preuß und Max Weber, die gegen den Obrigkeitsstaat des Kaiserreichs kämpften und vor allem während des Weltkrieges die Demokratisierung der politischen Ordnung forderten. Sie er­warteten von der Demokratisierung keinen automatischen Qualitätsschub für die Politik, aber die Politisierung des Bürgertums, das gezwungen werden sollte, das obrigkeitsstaatliche Gehäuse zu verlassen und sich der Politik zu stellen, nicht sich dem Obrigkeitsstaat zu unterstellen.

Die meisten sich mit dem Bürgertum identifizierenden Intellektuellen hielten nämlich eine bildungsbürgerliche Distanz zur Politik. Bei ihnen evozierte die „Masse“ vor allem Vorstellungen und Befürchtungen hinsichtlich einer Nivellierung des Bildungs- und Kulturniveaus. Viele demokratie-affine Intellektuelle plädierten weniger für eine vorbehaltlose politische Partizipation der gesamten Bevölkerung, sondern kritisierten eher das Bürgertum selbst, das sich als vermeintliche Elite der Nation verstand, aber außerstande war, die politische Selbstregierung durchzusetzen, und das von den Kritikern verdächtigt wurde, die politische Selbstregierung auch gar nicht anzustreben.

Wie in einer Parabel lässt sich ein großer Teil des intellektuellen Konfliktes, der zwischen bürgerlichen Intellektuellen des Kaiserreichs ausgetragen wurde, am Beispiel des Gebrüderpaares Heinrich und Thomas Mann veranschaulichen. Im Kern ging es bei diesem Konflikt im Allgemeinen um Inhalt und Ziel der Politik, im Besonderen aber um die Klärung und Wertung des Begriffs der Demokratie. Heinrich Mann war als Frankreich-Freund bekannt. Sein Ro­man „Der Untertan“ über Diederich Heßling als Inbe­griff des untertänigen Deutschen, dem wahre Bürger­lich­keit fehlte und der sie mit Unterwürfigkeit kompensierte, zeigte seine Stoßrichtung: die Kritik des Bürgertums. Er machte aber zugleich die Grenzen der Möglichkeiten einer Demokratisierung anschau­lich; denn wenn es sich bei Heßling tatsächlich um den durchschnittlichen Akteurstypus handelte, so waren jeder Selbstregierung Grenzen gesetzt. In „Geist und Tat“ und dann im „Zola“-Aufsatz verlangte Heinrich Mann nicht nur ein politisches Engagement der Intellektuellen, er analysierte auch, warum es dazu im wilhelminischen Kaiserreich nicht gekommen war.

Heinrichs Bruder Thomas äußerte sich lange Zeit nur sehr verhalten zur Politik. Vor allem durch die Debatten des ersten Weltkriegs motiviert, versuchte Thomas Mann die politische Wertschätzung des Kaiserreichs auf den Begriff zu bringen, die ihn latent bereits vor 1914 prägte. Schon in Aufsätzen im Jahr 1914 und dann in dem umfangreichen Konvolut seiner „Betrachtungen eines Unpolitischen“ wehrte er sich gegen die einseitige Charakterisierung des Kaiserreichs als Militärstaat. Er hob stattdessen das moderne Antlitz des wilhelminischen Staates hervor und zählte hierzu Aspekte, die er unter dem Stichwort „soziales Kaisertum” zusammenfasste: das allgemeine Wahl­recht auf Reichsebene, die staatsbürgerlich intendierte allgemeine Wehrpflicht und die Sozialpolitik.

Für viele bürgerliche Intellektuelle klärte sich die Haltung zur Demokratie erst in der Krise des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg oder sogar erst mit dem Untergang des Kaiserreichs. Das zeigt sich beispielsweise auch bei Thomas Mann, der bereits in den frühen 1920er Jahren seine Haltung änderte und zu einem ernst­haften Verteidiger der Demokratie in Idee und Praxis wurde.

Zur „Masse“ hatten sozialistische Intellektuelle ein deutlich konstruktiveres Verhältnis als die sich mit dem Bürgertum identifizierenden Intellektuelle. Die Masse war für Sozialisten vor allem die Masse der Arbeiter, die es zu organisieren galt, die als Arbeiter­be­we­gung in der Partei ihren politischen Arm besaß und die etwa in Form des Massenstreiks für die Demokratisierung des Preußischen Drei-Klassen-Wahlrechts mobilisiert werden konnte. Das bedeutete aber noch keineswegs, dass die Demokratie die Leitidee sozialistischer Intellektueller war. Was in einzelnen Stadtstaaten oder in der Schweiz auch in der Moderne an demokratischer Politik weiterhin möglich schien, wurde selbst von den meisten sozialistischen Intellektuellen nicht als Model begriffen, das auf Deutschland als Ganzes übertragen werden konnte. In dieser Hinsicht war beispielsweise Karl Kautsky sehr klar, wenn er in einer Schrift aus dem Jahr 1893 Vorschläge zur direkten Volksgesetzgebung ablehnte, wie sie Moritz Rittinghausen gemacht hatte. Zwar hatten sozialistische Intellektuelle eine weitaus größere Offenheit für den Demokratie-Gedanken als ihre bürgerlichen Pendants, doch haben die meisten unter ihnen die Demokratie nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel für oder als Folge dessen angesehen, was ihnen haupt­säch­lich bedeutsam war: die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft. Wenn da­ge­gen Rosa Luxemburg die Demokratisierung verlangte, verstand sie darunter die Befreiung der Bevölkerung im Allgemeinen, der Arbeitermassen im Besonderen von jeglicher Bevormundung, und zwar in der idealistischen Annahme, eine solche Befreiung werde spontan zur Hervorbringung aller jener Fähigkeiten führen, sich selbst politisch zu regieren. Eine solche Haltung wurde von den meisten sozialistischen Intellektuellen als radikal abgelehnt.

Einige demokratie-affine Intellektuelle wie Max Weber unterstützten die Demokratisierung nicht aus einer demokratischen Grundeinstellung heraus, sondern weil sie die Staatlichkeit stützen wollten, allerdings eine freiheitlich strukturierte Staatlichkeit. Einige sozialistische Intellektuelle hielten dagegen die Demokratisierung des Kaiserreichs ohne Wandel der Gesellschaftsstruktur für nutzlos, ihre Ambition zielte nicht auf die Etablierung einer demokratischen Ordnung, sondern auf die Revolution. Diese Debatte prägte dann vor allem die Weimarer Republik. Die Suche nach „demokratischen Intellektuellen“ im Kaiserreich ist also schwieriger als man denken mag.