Der Bundesrat in Verfassung und Wirklichkeit

Oliver F. R. Haardt

Die Reichsverfassung von 1871 umfasste eine ganze Reihe von Sicherheitsvorkehrungen, um monarchische Souveränität zu schützen und den Reichstag von der Regierungsgewalt des Reiches fernzuhalten. Unter diesen war der Bundesrat die wichtigste. Die Länderkammer war ein Bollwerk monarchischer Macht. Sie bestand aus den Gesandten der monarchischen Regierungen der fünfundzwanzig Einzelstaaten des Reiches. Die Stimmverteilung orientierte sich an derjenigen des Bundestages des alten Deutschen Bundes und sicherte die Hegemonie Preußens durch den Zuschlag der Stimmen jener Staaten ab, die das Hohenzol­lern­königreich 1866 im Zuge der Reichsgründung annektiert hatte (Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau, und Frankfurt). Von den insgesamt 58 Stimmen führte Preußen daher ganze siebzehn. Die Mittelstaaten Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, und Hessen kamen je auf drei bis sechs Stimmen. Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig verfügten über zwei, die übrigen siebzehn Kleinstaaten über je eine Stimme.

Die Kompetenzen des Bundesrates erstreckten sich auf alle drei Zweige der Staatsgewalt. Zusammen mit dem Reichstag bildete er die Legislative des Reiches. Ohne seine Zu­stim­mung konnte kein Gesetz verabschiedet werden. Auch in der Exekutive gab ihm die Verfassung eine herausragende Position. Er genoss hier einige Vorrechte, die klassischerweise einem Mo­nar­chen zustanden, wie etwa das allgemeine Verordnungsrecht. Noch wichtiger war allerdings ein anderer Umstand. Da die Reichsverfassung keine Reichsregierung einrichtete, fiel diese Rolle nach der Logik des Institutionengefüges auf den Bundesrat. Der Reichskanzler war dementsprechend formal nicht mehr als der Vorsitzende der Länderkammer. Außerdem war der Bundesrat auch eine bedeutende Instanz in der Judikative. Die Reichsverfassung schuf keinen Verfassungsgerichtshof, sondern eine Reihe alternativer Konfliktlösungsmechanismen. An diesen war der Bundesrat immer in der einen oder anderen Form beteiligt. Für Streitigkeiten zwischen zwei oder mehreren Einzelstaaten des Bundes war er sogar ganz alleine zuständig.

Der Bundesrat war also das zentrale Organ der Verfassung. Durch diese Stellung schützte er die wichtigsten Entscheidungsstellen monarchischer Macht vor möglichen Zugriffen durch das Parlament. Als institutionelle Verkörperung des kollektiven Souveräns des Reiches – der verbündeten Regierungen der Einzelstaaten – bestand der Bundesrat aus Gesandten, die allein ihren jeweiligen Heimatregierungen gegenüber verantwortlich waren und daher nominell gar nicht zur Reichsebene gehörten. Folglich konnten sie auch nicht vom nationalen Parlament – dem Reichstag – belangt, geschweige denn zur Rechenschaft gezogen werden. Das galt auch für den Reichs­kanz­ler, da die Verfassung diesen ja nur als Präsidialgesandten Preußens definierte. Als Ersatz für eine offizielle Reichsregierung war der Bundesrat und alle Stellen, die – wie der Kanzler – in seinen Schutzbereich eingepflegt waren, gegenüber dem Reichstag somit unangreifbar. Anders gesagt: Die Verzahnung der unterschiedlichen Regierungsebenen des monarchischen Bundesstaates im Knotenpunkt Bundesrat stellte strukturell sicher, dass eine Parlamentarisierung des föderalen Verfassungsgefüges in der Gestalt, in der es 1871 geschaffen wurden, überhaupt nicht möglich war.

Eben diese Gestalt änderte sich in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung jedoch fundamental. Angetrieben von einer umfangreichen Zentralisierung, die den Schwerpunkt staatlicher Macht von den Einzelstaaten auf das Reich verlagerte, bauten mehrere große Wandlungsprozesse den strukturellen Rahmen föderalen Regierens gründlich um. Der Kaiser erhob sich vom primus inter pares im Kreis der Bundesfürsten zu einem Reichsmonarchen. Der Kanzler wuchs in die Rolle des Chefs einer kaiserlichen Reichsregierung hinein, die nach und nach in Person der Leiter der obersten Reichsbehörden, den sogenannten Reichsämtern, um ihn herum entstand. Und der Reichstag ersetzte die einzelstaatlichen Regierungen als wichtigsten Verhandlungspartner der exekutiven Entscheidungsträger des Reiches. Diese Entwicklung der Verfassungsrealität drängte den Bundesrat in ein politisches Schattendasein, das seine Schutzfunktion zur Verhinderung parlamentarischer Übergriffe auf die Regierungsgewalt langsam aushöhlte. Um diese Zusammenhänge zu verstehen, müssen wir sowohl den Wandel betrachten, der sich im Innern des Bundesrates vollzog, als auch die Veränderung, die er bezüglich seiner Position im Netz der föderalen Entscheidungsfindung zwischen den Reichsorganen durchlebte.

Das Innenleben der Länderkammer geriet innerhalb der ersten zwei Jahrzehnte nach der Reichsgründung komplett unter die Kontrolle der gleichzeitig entstehenden Reichs­regierung. Dieser Übernahmeprozess vollzog sich auf der Grundlage einer zweiteiligen Mani­pu­lation der Zusammensetzung des Bundesrates. Zum einen machte die Reichsregierung die preußische Bundesratsvertretung zu ihrer eignen. Zu diesem Zweck sorgte der Reichskanzler dafür, dass der Kaiser in seiner Eigenschaft als preußischer König eine große Schar leitender Beamter der Reichsämter zu stellvertretenden Bundesratsbevollmächtigten Preußens ernannte. Auf diese Weise schleuste die Reichsregierung ihre eigenen Interessensvertreter gewissermaßen durch die Hintertür in die Länderkammer ein und ließ sie dort die mit Abstand wichtigste Bank besetzen. Bis 1910 stieg der Anteil an Reichsbeamten unter den preußischen Bevollmächtigten auf über 90 Prozent. Die Reichsregierung machte sich mit der preußischen Bundesratsgesandtschaft also eines der wichtigsten Instrumente der preußischen Hegemonie zu eigen, um dadurch das zentrale Organ der Verfassung selbst zu dirigieren.

Um die Abstimmungen im Bundesrat für sich zu entscheiden, reichten allerdings die siebzehn preußischen Stimmen alleine nicht aus. Deshalb bewirkte die Reichsregierung durch massiven politischen Druck, dass die meisten kleinstaatlichen Regierungen ihre eigenständige Teilnahme am Entscheidungsprozess des Bundesrates aufgaben und stattdessen ein komplexes Substitutionssystem etablierten, das sie zu Mehrheitsbeschaffern der preußischen Bank degradierte. Das Rückgrat dieses Systems waren die sogenannten Substitutionsbevollmächtigten. Dabei handelte es sich um Gesandte, die zusätzlich zu den Stimmen ihrer Heimatregierungen auch noch die Stimmen anderer Landesregierungen abgaben. Einige Substitutionsbevollmächtigte vertraten bis zu zehn Staaten und gaben daher mitunter mehr Stimmen ab als der Stimmführer der preußischen Bank. Die Doppelrolle dieser Spezialgesandten ermöglichte die Bildung von mehreren Abstimmungsgemeinschaften, die praktisch immer mit der preußischen Delegation stimmten und so Mehrheiten für die Reichsregierung produzierten. Wie groß die Kontrolle war, die letztere dadurch über den Bundesrat gewann, spiegelte sich in dem hohen Anteil an Substitutionen wider. Wäh­rend der gesamten Kai­ser­zeit lag dieser auf den Bän­ken der Kleinstaaten immer deutlich über 50, in der Spitze sogar über 70 Prozent. Diese Entwicklungen machten den Bundesrat folglich de facto zu einem Satellitenorgan der Reichsregierung, das deren Vorlagen in den allermeisten Fällen ohne größere Probleme abnickte. 

Diese Nationalisierung des Bundesrates führte allerdings mitnichten dazu, dass die einzelstaatlichen Regierungen jeglichen Einfluss auf die Gestaltung der Reichspolitik verloren. Im Gegenteil: Mit den Jahren bildete sich rund um den Bundesrat ein umfangreiches Netz an alternativen Entscheidungsprozessen und -foren heraus, das gerade den Regierungen der kleineren Einzelstaaten mitunter mehr Gehör verschaffte, als es die Länderkammer je getan hatte. Allerdings beeinträchtigte die Nationalisierung des Bundesrates dessen Funktion als Schutzwall gegen die Machtansprüche des Reichstages. Die bloße Existenz der Länderkammer schirmte zwar die Reichsregierung, die in den ersten Jahren nach der Reichsgründung entstand und liberalen Forderungen nach Einführung einer parlamentarischen Verantwortlichkeit der exekutiven Entscheidungsträger eine konkrete Angriffsfläche bot, vorerst weiterhin ab. Mit der Zeit wurde diese Schutzfunktion aber immer schwächer.

Insgesamt lassen sich in der Verfassungsgeschichte des Kaiserreiches sechs Phasen unterscheiden, in de­nen sich die eigentlich vorgesehene Position der Länderkammer im föderalen Entscheidungsprozess immer weiter verschob. In den ersten sechs Jahren nach der Reichsgründung versuchte Bismarck, das neue Regierungssystem soweit wie möglich staatenbündisch zu betreiben. Dazu ließ er die einzelstaatlichen Regierungen ihre Verhandlungen aus dem offiziellen Verfassungsrahmen auslagern. Stattdessen benutz­ten sie ihre diplomatischen Missionen in Berlin, um sich kurzzuschließen. Als Koordinationsstelle diente das Kanzleramt. Dieses System wies dem Bundesrat von Anfang an eine Nebenrolle im föderalen Ent­schei­dungsprozess zu, da die wichtigsten Entschei­dun­gen schon getroffen wurden, bevor überhaupt das offizielle Gesetzgebungsverfahren begann.

Zwischen 1876 und 1879/80 splittete sich das Kanzleramt in mehrere oberste Reichsbehörden auf. Dadurch formierte sich eine von Preußen institutionell unabhängige Reichsregierung. Diese begann umgehend damit, den Bundesrat durch die oben beschriebenen Unterwanderungsvorgänge unter ihre Kont­rolle zu bringen. Da die Länderkammer aber weiterhin am Rande des föderalen Entscheidungsprozesses stand, vermochte sie die Reichsregierung nur unzureichend vom Reichstag abzuschirmen. Dessen verstärkte Angriffe auf den Kanzler und die Leiter der Reichsämter waren umso wirkungsvoller, weil sich die einzelstaatlichen Regierungen, allen voran die preußische, vom Durchbruch der Reichsregierung bedroht fühlten und dieser bei zahlreichen Gesetzgebungsprojekten die Gefolgschaft versagten.

Ab 1880 reagierte Bismarck auf die anhaltenden Vorstöße des Reichstages mit dem Versuch, die in den letzten zehn Jahren entstandene Regierungsordnung wieder in den Zustand zurückzuversetzen, der in der geschriebenen Verfassung vorgesehen war. Der Grundgedanke dieser staatenbündischen Restauration lag darin, den Bundesrat endlich ins Zentrum des föderalen Entscheidungssystems zu stellen und die Reichsregierung gänzlich hinter das so gestärkte Bollwerk zurückzuziehen. Alle Maßnahmen, die Bismarck zur Umsetzung dieses Planes unternahm, wie zum Beispiel eine Reform der bundesrätlichen Geschäftsordnung, scheiterten jedoch kläglich. Die Ei­gen­dynamik, die die oben angesprochenen Wandlungsprozesse seit der Reichsgründung entwickelt hatten, war mittlerweile einfach zu stark. So ging der Umbau des Verfassungssystems in eine Reichsmonarchie im Endeffekt ungebremst weiter. Am Ende von Bismarcks Kanzlerschaft war der Bundesrat daher bereits nur noch ein Nebenschauplatz, auf dem die Reichsregierung den Ton angab.

Nach Bismarcks Abgang 1890 stellten sich zunächst erhebliche Koordinationsprobleme ein. Das föderale Entscheidungssystem musste sich nach dem Ausscheiden seines alles dominierenden Übervaters erst einmal neu sortieren. Dieser Anpassungsprozess brachte für den Bundesrat jedoch keine Veränderung. Er blieb am Rande des Geschehens, wo er vor allem als Rückzugsort diente, dessen schützende Sphären die Reichsregierung aufsuchen konnte, um besonders heftigen Übergriffen des Reichstages auszuweichen. Statt in der Länderkammer brachten sich die einzelstaatlichen Regierungen vornehmlich in jene alternativen Verhandlungsforen ein, die schon unter Bismarck entstanden waren und jetzt in den Mittelpunkt des föderalen Entscheidungsprozesses rückten. Besonders wichtig waren die Spezialkommissionen, vermittels derer die Reichregierung neben Vertretern der Landesregierungen auch Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft bereits in die Entwurfsphase von Gesetzesvorlagen einband, und die Reichstagsausschüsse, in denen die Vertreter der großen Fraktionen, der Reichsregierung, und der einzelstaatlichen Regierungen sich direkt miteinander auseinandersetzen konnten.

Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts hatte sich das so entstandene Netz alternativer Entscheidungsmechanismen so sehr verdichtet, dass ein integriertes System entstanden war. Dieses besaß in allen Politikfeldern einheitliche und professionalisierte politisch-administrative Abläufe, koordinierte die verschiedenen Machtzentren auf Bundes- und Landesebene durch zahllose institutionelle Verflechtungen und erwies sich trotz aller politischen Krisen als relativ stabil. Gleichzeitig baute es die Barrieren, die einer Parlamentarisierung der Reichsgewalt entgegenstanden, ein ganzes Stück weit ab. Das lag vor allem daran, dass der Bundesrat endgültig zu einem bloßen Verwaltungsausschuss herabsank, hinter dem sich die Reichsregierung nur noch mehr schlecht als recht vor dem Reichstag verstecken konnte.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte der Bundesrat formal gesehen eine Renaissance. Die Kriegsordnung umfasste neben einer Militärdiktatur des Kaisers nämlich auch eine Zivildiktatur der Länderkammer. Das Kriegsermächtigungsgesetz vom August 1914 verlieh dem Bundesrat ein umfangreiches Notverordnungsrecht, das den normalen Gesetzgebungsprozess in vielen Bereichen ersetzte. Da der Bundesrat zu diesem Zeitpunkt aber schon lange zu einem Satellitenorgan der Reichsregierung geworden war, handelte es sich in Wirklichkeit um eine Ermächtigung des Kanzlers und seiner Minister. Durch diese Machtkonzentration exponierte sich die Reichs­re­gierung endgültig so weit, dass sie die Schutzfunktion des Bundesrates aufbrach. Infolgedessen konnten die Mehrheitsparteien unter dem Druck der sich verschlechternden militärischen Lage ab Sommer 1917 schrittweise in die Reichsregierung eindringen. Die Oktoberreformen des Folgejahres übertrugen ihnen schließlich offiziell die Regierungsgewalt. Schon wenige Wochen später wurde die so geschaffene parlamentarische Monarchie von der Revolution überrollt. Der Bundesrat war da schon so unbedeutend geworden, dass er in diesem Umwälzungsprozess überhaupt keine Rolle mehr spielte.

Literatur:

Haardt, Oliver F. R., Bismarcks ewiger Bund. Eine neue
Geschichte des Kaiserreichs 1871–1918, Darmstadt 2020