Hugenottenrathaus Neu-Isenburg
Das Rathaus auf dem Marktplatz der Stadt Neu-Isenburg war zwischen 1702 und 1876 ein Symbol für die Selbstverwaltungsrechte der Hugenottensiedlung. Hier wurde gewählt, hier fanden Sitzungen statt, hier sprachen vom Volk gewählte Schöffen Recht, während in der Umgebung noch Absolutismus herrschte.
Graf Johann Philipp zu Ysenburg-Büdingen (1655 - 1718) hatte seinen Sitz in Offenbach im Isenburger Schloss. In Folge des Dreißigjährigen Krieges war seine Grafschaft Offenbach verarmt, verwüstet und entvölkert. Der Graf warb aktiv Immigranten an, um seine Grafschaft wirtschaftlich wieder aufbauen zu können. Vor allem von den Hugenotten – französischen Glaubensflüchtlingen – erhoffte er sich wirtschaftliche Impulse im Manufakturwesen.
Die Ansiedlung der Hugenotten erfolgte auf einem Stück Land in unmittelbarer Nähe des Hoheitsgebiets der Freien Reichsstadt Frankfurt. Der gräfliche Baumeister Andreas Löber hatte für dieses Land 1699 eine Flüchtlingssiedlung entworfen. Ein Quadrat mit einer Seitenlänge von 250 Metern, darin 78 Hausplätze, ein Platz für Kirche und Friedhof sowie ein Marktplatz mit Brunnen. Zusätzlich erhielten die Siedler weitreichende Selbstverwaltungsrechte, die in dem „Privileg“ vom 20. September 1699 festgelegt waren. Dort war garantiert: Religionsfreiheit; kirchliche Selbstverwaltung mit dem von den Gemeindemitgliedern gewählten Konsistorium als Entscheidungsgremium; „Urwahl“ der Pfarrer durch die ganze Gemeinde – eine Tradition der Hugenotten, das bis heute in reformierten Gemeinden praktiziert wird. Als steinernes Symbol dieser Freiheiten wurde 1702 das Rathaus als sichtbare Mitte (Point de Vue) der Siedlung über dem Dorfbrunnen errichtet. Schon bald entwickelte das Gebäude eine Strahlkraft weit über die Grenzen des Ortes hinaus. Neu-Isenburg zog Menschen an, die sich ein persönliches Fortkommen, die sich Selbstbestimmung, Asyl oder auch wirtschaftlichen Erfolg versprachen. Mit den Augen von heute betrachtet wurde hier an diesem Ort Demokratie in einer frühen, aber auch sehr reinen und bürgernahen Form praktiziert. Die Bürger wählten ihre Repräsentanten, Entscheidungen wurden auf Versammlungen getroffen, vom Volk gewählte Schöffen waren für die Rechtsprechung zuständig. Von der Ortsgründung bis zur Übernahme des Ortes durch das Großherzogtum Hessen-Darmstadt im Jahre 1816 praktizierten die Neu-Isenburger über 100 Jahre lang ein demokratisches Zusammenleben inmitten einer autoritären Fürstenkultur.
Im Großherzogtum verfielen zunächst die demokratischen Praktiken. Nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wurde auch das Hugenottenrathaus wegen Baufälligkeit dem Verfall preisgegeben und im September 1876 für 431,50 Mark versteigert und danach abgerissen. Die Leerstelle ruft noch heute in Neu-Isenburg schmerzliche Erinnerungen wach. Immer wieder fordern Bürgerinnen und Bürger der Stadt seither den Wiederaufbau des Hugenottenrathauses. Dadurch bringen sie zum Ausdruck, welche Bedeutung der Ort für die kommunale Erinnerungskultur und die lokale Demokratie besitzt.
In Zusammenarbeit mit: Trägerverein Hugenottenrathaus Neu-Isenburg e.V., Georg Oeter.