Bundeswehr und Kaiserheer – Monarchistische Traditionen für demokratische Streitkräfte?

Florian J. Schreiner

„Deutschlands Geschichte ist Soldatengeschich­te“, stellte Chefredakteur Frank Werner im Sonderheft der ZEIT „Die Deutschen und ihre Soldaten“ wie selbstverständlich fest. Auf dem Titelblatt prangt das Eiserne Kreuz, die vom preußischen Monarchen jeweils 1813, 1870 und 1914 gestiftete militärische Tapferkeitsauszeichnung im Kampf für „Kaiser, Gott und Vaterland“. Heute ist es das zentrale Identifikationsmerkmal der Parlamentsarmee Bundeswehr der demokratischen Bundesrepublik Deutschland.

Mit Tagesbefehl vom 28. März 2018 hat die damalige Bundesministerin der Verteidigung, Ursula von der Leyen, die „Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr“, den sogenannten „Traditionserlass“ in Kraft gesetzt. Dies geschah im Rahmen eines feierlichen Appells anlässlich der Umbenennung der „Emmich-Cambrai-Kaserne“ in Hannover, die seither „Hauptfeldwebel-La­gen­stein-Kaserne“ heißt. Die Umbenennung der Kaserne ist symbolträchtig, auch für die Implementierung des Erlasses, mit dem die Bundeswehrführung nun in der dritten Auflage – nach 1965 und 1982 – die Deutungshoheit über das eigene Geschichtsverständnis zu implementieren versucht. Mit der Ehrung eines in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten rückt die eigene Geschichte in den Mittelpunkt – der kaiserliche General der Infanterie Otto von Emmich musste weichen.

Vielsagend heißt es im Kapitel „Historische Grundlagen“ des Erlasses:

„Die deutsche (Militär-) Geschichte ist geprägt von Brüchen und Zäsuren. Wegen des folgenschweren Missbrauchs militärischer Macht, insbesondere während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, gibt es keine geradlinige deutsche Militärtradition.“

Dementsprechend schließe die Traditionspflege der Bundeswehr „jene Teile aus, die unvereinbar mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind.“

Zweifellos hat Deutschland – besonders im Vergleich mit den wesentlichen Bezugspunkten Großbritannien, Frankreich und den USA – eine gebrochene Militärtradition. Doch wie glatt ist der Bruch mit der Vergangenheit, den das Deutsche Militär vollzogen hat? Gab es wirklich einen vollständigen militärischen und erinnerungskulturellen „Neubeginn“ der Deutschen Streitkräfte, als die Bundeswehr 1955 bzw. die Nationale Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik 1956 aufgestellt wurde?

Exemplarisch stehen die eingangs genannten Beispiele für die vielfältigen Wechselwirkungen und Kontinuitäten aber auch Brüche im Deutschen Militär und dessen (Erinnerungs-) Kultur, die durch Tradierung von Symbolen, Bräuchen und Institutionen aus dem Zeitalter der Monarchien in Deutschland auch in der Demokratie noch fortbestehen.

Insbesondere im Hinblick auf den sprichwörtlich gewordenen „preußischen Militarismus“ ist die Erinnerung und Tradierung von Werten und Normen der Armee(n) des Kaiserreichs, deren militärischer Kulminationspunkt in der „Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts“ lag, ein heikles und politisch nicht selten großzügig umschifftes Feld bundesdeutscher Traditionspflege. Es lohnt sich daher, dieses Spannungsfeld näher zu beleuchten.

Das Militär des Kaiserreichs – Ein „Kaiserheer“?

Die offizielle Bezeichnung der Landstreitkräfte des Deutschen Reiches von 1871 bis 1918 war das „Deutsche Heer“. Zu Friedenszeiten gehörte diesem die Preußische, Sächsische und Württembergische Armee an, die sich aus den 23 dazugehörigen Militärkontingenten der angegliederten Herzog- und Fürstentümer sowie Kleinterritorien des Deutschen Reiches durch Militärkonventionen zusammensetzten. Oberbefehlshaber des Deutschen Heeres war der Kaiser des Deutschen Reiches.

Das Heer und die Marine waren, abgesehen von der Bewilligung der nötigen Finanzmittel, nach der Verfassung weitgehend der Verfügungsgewalt des preußischen Königs beziehungsweise des Kaisers unterstellt. Das Militär blieb daher bis zuletzt eine der zentralen Stützen der Monarchie. Unterhalb des „Obersten Kriegsherrn“ – wie sich insbesondere der dritte Deutsche Kaiser Wilhelm II. gern offiziell bezeichnen ließ – existierten mit dem Militärkabinett, dem preußischen Kriegsministerium und dem Generalstab drei Institutionen, die zeitweise untereinander um Kompetenzen stritten. Die umfassende Kommandogewalt des Kaisers wurde außerdem dadurch unterstrichen, dass ihm die etwa 50 höchsten Kommandostellen ohne Zwischenebene direkt unterstellt waren.

Höchste Führungs-, Ausbildungs- und Verwaltungsebene waren die sogenannten Armee-Korps, die jeweils etwa 35.000 Soldaten umfassten. Bis 1890 bestellte das Deutsche Heer formal 18 Armeekorps, davon 14 preußische, zwei bayerische, ein sächsisches und ein württembergisches, ehe die Zahl auf insgesamt 25 Armeekorps erhöht wurde.

In Kriegszeiten gliederte das Deutsche Heer zudem die Armeekorps des Königreichs Bayern ein. Der Oberbefehl über das Heer ging dann vom bayerischen König auf den Deutschen Kaiser über.

Militär und Gesellschaft im Kaiserreich

Das Militär gewann während des Kaiserreichs eine sehr starke, gesellschaftlich prägende Bedeutung. Dies war nicht immer so. Zwischen 1848 und den 1860er Jahren hatte die Gesellschaft das Militär auch aufgrund dessen repressiver Rolle während der gescheiterten Revolution von 1848 eher mit Misstrauen betrachtet.

Dies änderte sich nach den für die nationale Einigung wegweisenden militärischen Siegen von 1864 bis 1871 fundamental. Das Militär wurde zu einem zentralen Element des entstehenden „Reichspatriotismus“. Kritik am Militär galt als unpatriotisch. Das Offizierskorps wurde in weiten Teilen der Bevölkerung zum „Ersten Stand im Staate.“ Dessen Weltbild war geprägt von der Treue zur Monarchie und der Verteidigung der Nation, es war konservativ, meist antisozialistisch und im Wesentlichen antiparlamentarisch geprägt. Der militärische Verhaltens- und Ehrenkodex reichte weit in die Gesellschaft hinein. Auch für viele wohlhabende Bürger wurde der Status eines Reserveoffiziers zu einem erstrebenswerten Ziel.

Dennoch unterstützten die politischen Parteien eine Vergrößerung der Armee nicht unbegrenzt. So erreichte das Militär erst 1890 mit einer Friedenspräsenzstärke von fast 490.000 Mann seine von der Verfassung vorgegebene Stärke von einem Prozent der Bevölkerung. Von Bedeutung war das Militär zweifellos auch für die innere Nationsbildung. Der gemeinsame Dienst förderte die Integration der katholischen Bevölkerung in das protestantisch dominierte Reich. Selbst die Arbeiterschaft blieb gegenüber der Ausstrahlung des Militärs nicht immun.

Dabei kam dem mindestens zwei Jahre (bei der Kavallerie drei Jahre) dauernden Wehrdienst als sogenannter „Schule der Nation“ eine prägende Rolle zu. Wegen des Überangebots an Wehrpflichtigen leistete allerdings durchschnittlich nur gut die Hälfte eines Jahrgangs aktiven Militärdienst. Wehrpflichtige mit höherer Schulbildung – fast ausschließlich Angehörige der Mittel- und Oberschicht – hatten das Privileg, als Einjährig-Freiwillige verkürzten Militärdienst zu leisten und unterliefen damit ebenfalls den formalen Gleichheitsgrundsatz.

Wie sehr die Affinität zum Militär auch nachhaltig prägend für die Gesellschaft des Kaiserreiches war, zeigen die über 30.000 Kriegervereine, deren Dach­ver­band „Kyffhäuserbund“ etwa drei Millionen Mit­glie­der vereinigte und damit zu den größten Interessensvertretungen des gesamten Reiches gehörte.

Die Bundeswehr zwischen institutionellen Brüchen und traditionellen Kontinuitäten?

Die Bundesrepublik Deutschland ist dagegen eine „postheroische Gesellschaft“ (Herfried Münkler) geworden, in der „Militär“ und „das Militärische“ nur noch eine untergeordnete Rolle spielen.

Auch weil das Deutsche Militär nicht mehr nur zur Landesverteidigung konzipiert ist, sondern nahezu immer im Rahmen von Systemen kollektiver Sicherheit wie der NATO, UN oder EU agiert, hat sich nicht nur das Aufgabenfeld, sondern auch das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Wahrnehmung des Militärs in Deutschland stark gewandelt. Nicht zuletzt hat das Aussetzen der Wehrpflicht die Präsenz der Streitkräfte für den gesellschaftlichen Alltag in Deutschland noch einmal reduziert.

Institutionelle Brüche in der militärischen Spitzengliederung vom Kaiserreich zur Bundesrepublik sind dabei ebensowenig von der Hand zu weisen: Der Oberbefehl über die Streitkräfte – die Kommandogewalt – liegt nunmehr gemäß Artikel 65a GG regelmäßig bei der Bundesministerin der Verteidigung – im Vertei­di­gungs­fall laut Artikel 115b bei der Bundeskanzlerin. Die politisch-strategische Führung der Streitkräfte liegt somit vollumfänglich in ziviler Hand. Als ranghöchster Soldat der Bundeswehr und truppendienstlicher Vorgesetzter aller Soldatinnen (auch dies ist selbstverständlich eine Neuerung des 21. Jahrhunderts) und Soldaten untersteht der Ministerin der Generalinspekteur der Bundeswehr. Er ist für die Umsetzung der politisch vorgegebenen Maßnahmen in der Truppe verantwortlich, hat jedoch keinerlei Verfügungsgewalt über den Einsatz militärischer Mittel.

Auch die „Zersplitterung“ der Streitkräfte in unterschiedliche Bundeskontingente wurde vollständig aufgehoben – dem Bund unterstehen Streitkräfte, auf die die Bundesländer keinerlei Zugriff haben. Die Spit­zen­gliederung des Deutschen Militärs unterlag zweifelsohne den größten Umbrüchen und ist wesentlicher Ausfluss der Lehren aus der verhängnisvollen deutschen Militärgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts.

Anders stellt es sich in der Organisationskultur dar. Denn so klar die Zäsuren in der militärischen und politischen Führung der Streitkräfte nachweisbar sind, so deutlich sind auch Kontinuitäten und Transformationsprozesse in der Militärtradition auszumachen.

Bereits im ersten Traditionserlass der Bundeswehr aus dem Jahr 1965 (unter Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel, CDU) heißt es mit Bezug auf das preußische Militär: „Nach deutscher militärischer Tradition beruhen Leistung und Würde des Soldaten in besonderem Maße auf seiner Freiheit im Gehorsam. […] An diese Freiheit im Gehorsam gilt es anzuknüpfen.“ In die gleiche Richtung zielt auch die neueste Aktualisierung aus dem Jahr 2018, indem sie die Geschichte deutscher Streitkräfte bis zum 20. Jahrhundert als „Quelle erinnerungs- und damit bewahrungswürdiger Vorbilder und Geschehnisse“ begreift.

Auf Grundlage dieser Weisungen, an denen sich die Traditionspflege und die historische Bildung innerhalb der Bundeswehr ausrichtet, ist es nicht verwunderlich, dass sich auch heute noch Traditions­ele­men­te finden lassen, deren geschichtliche Ursprünge im Deutschen Kaiserreich liegen, oder explizit auf deren Akteure verweisen.

Die auch in der öffentlichen Wahrnehmung prominentesten Elemente der Tradition in der Bundeswehr, sind Kasernennamen. Gegenwärtig verweisen zahlreiche Liegenschaften der Bundeswehr sowohl auf Militärs des Kai­ser­reiches (darunter die Generale „Hindenburg“, „Mackensen“, „Falckenstein“, „Haeseler“, „Deines“ und „Bruchmüller“) als auch auf konkrete Schlachten und militärisch erfolgreiche Operationen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges („Douaumont“, „Lüttich“). Gleiches gilt für Traditionsnamen, die nach wie vor in verschiedenen Verbänden der Bundeswehr offiziell in Gebrauch sind – hier seien zum Beispiel die drei Taktischen Luftwaffengeschwader „Immelmann“, „Boelcke“ und „Richthofen“ genannt, deren Namensgeber allesamt Jagdpiloten des Ersten Weltkriegs waren – und damit auch entsprechende Traditionslinien begründen.

Insbesondere in der Außenwirkung lässt sich jedoch seit Gründung der Bundeswehr ein kontinuierlicher Rückgang dieser konkreten Bezüge zum Militär des Kaiserreiches feststellen, wie nicht zuletzt die eingangs erwähnte Umbenennung der ehemaligen „Emmich-Cambrai-Kaserne“ in Hannover in „Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne“ unterstreicht.

Innerorganisatorisch bewahrt die Bundeswehr jedoch auch weiterhin zahlreiche Bezüge zum Kaiserreich. So hat beispielsweise die feldgraue Uniform, die das Heer als mit Abstand größte Teilstreitkraft der Bundeswehr nach wie vor trägt, seine Ursprünge im Deutschen Kaiserreich, wo sie ab 1907 flächendeckend eingeführt wurde. Der Bedeutungswandel des Eisernen Kreuzes, das heute bundesweit bekannteste offizielle Erkennungssymbol der Bundeswehr, wurde in dieser Hinsicht bereits hervorgehoben.

Ein ebenfalls beachtlicher Aspekt der Traditionspflege betrifft die mündliche Tradierung: So sangen viele Rekrutinnen und Rekruten bis in die 2000er Jahre in der Grundausbildung beispielsweise das von Walter Flex in einem Schützengraben des Ersten Weltkrieges komponierte Lied „Wildgänse rauschen durch die Nacht“. Bei dem verträumten Blick auf einen Schwarm vorbeifliegender Wildgänse erdichtete Flex dort: „Wir sind wie ihr ein graues Heer und fahr’n in Kaisers Namen, und fahr’n wir ohne Wiederkehr, singt uns im Herbst ein Amen.“ Auch im Hinblick auf das Liedgut wurde jedoch 2017 eine grundlegende Überarbeitung des entsprechenden Liederbuches „Kameraden singt!“ angewiesen, welche die in der Truppe verbreiteten Gesänge kritisch neu betrachten soll.

Die zweifelsohne deutlichste Kontinuitätslinie für die Führungskultur und die Funktionslogik Deutscher Streitkräfte ist jedoch ein vom Chef des Großen Generalstabs Helmuth von Moltke ausformuliertes Führungsprinzip, das noch heute unverändert Bestand hat: Das seit 1888 in Dienstvorschriften des Deutschen Heeres verankerte, sogenannte „Führen mit Auftrag“, in der Bundeswehr unter dem seit 1906 gebräuchlichen Begriff „Auftragstaktik“ bekannt. Dieses auf Eigenverantwortung der militärischen Vorgesetzten basierende Prinzip wurde in die „Innere Führung“ genannte Führungskonzeption der Bundeswehr überführt und stellt das zentrale Bezugsdokument des Dienstes in den Streitkräften der Bundesrepublik Deutschland dar.

Sowohl mit Bezug auf die Organisationsstruktur als auch auf die Organisationskultur gibt es im Umgang des Deutschen Militärs mit dem Kaiserreich also eine Koexistenz von drei zentralen Merkmalen: Kontinuität, Zäsur und Transformation, die einem stetigen Aushandlungsprozess im Spannungsfeld von Politik, Militär und Gesellschaft unterliegen.

Literatur:

Abenheim, Donald, Reforging the Iron Cross. The search for tradition in the West German armed forces, Princeton 1989

Abenheim, Donald/Hartmann, Uwe (Hg.), Tradition in der Bundeswehr. Zum Erbe des deutschen Soldaten und zur Umsetzung des neuen Traditionserlasses, Berlin 2018

if. Zeitschrift für Innere Führung (2/2018): Tradition. Woher wir kommen, wohin wir gehen, wer wir sind. Berlin 2018

Neugebauer, Karl-Volker, Des Kaisers „schimmernde Wehr“. Militärgeschichte des Deutschen Kaiserreichs 1871 bis 1914, in: Ders. (Hg.), Grundkurs deutsche Militärgeschichte. Die Zeit bis 1914 – Vom Kriegshaufen zum Massenheer, Band 1, 2. Aufl.,
München 2009, 378–486