„Wir wollen die Schwelle so niedrig wie möglich halten“

Prof. Michael Dreyer im Interview mit dem „Reichsbanner“

In der aktuellen Ausgabe des „Reichsbanner“ führt Benedikt Dederichs ein Interview mit Prof. Michael Dreyer, Mitglied im SprecherInnenrat der AG Orte der Demokratiegeschichte, über die AG, über die Bedeutung der Demokratiegeschichte für die Gegenwart und über die symbolische Bedeutung von Schwarz-Rot-Gold.

Reichsbanner: Weshalb wurde die Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen?
Michael Dreyer: Hauptsächliche Motivation war der Gedanke, dass die Geschichte der Demokratie in Deutschland in der Öffentlichkeit, in den Schulen und in der Wissenschaft, aber auch in der Politik nicht die Aufmerksamkeit erfuhr, die ihr zusteht. Wir alle wissen von den dunklen Seiten der deutschen Geschichte, und das ist auch richtig und wichtig. Aber demgegenüber ist der nicht minder wichtige Gedanke, dass es immer auch deutsche demokratische Bestrebungen gegeben hat, deutlich weniger im generellen Bewusstsein verankert. Für Jahrzehnte reichte nach 1945 ein „niemals wieder“ zur Begründung von Demokratie, Westintegration und europäischem Einigungsprozess weitgehend aus. Mit dem graduellen Abtreten der Generation, die noch an eigenem Leibe erfahren hat, dass die Diktatur zum Krieg führen kann, ist eine neue Situation entstanden. Es wäre gefährlich, sich in der Illusion zu sonnen, dass Demokratie irgendwie automatisch entsteht. Das ist nicht der Fall, sie muss gestiftet und geschützt werden gegen Angriffe. Und dazu gehört auch, sich der eigenen Geschichte bewusst zu sein. Demokratie hat auch eine deutsche Geschichte; sie ist nicht einfach nur ein Geschenk, das die Alliierten 1945 an unserer (westdeutschen) Haustür ablegten und das 1989/90 mit der friedlichen Revolution auch auf DDR-Gebiet entstand.

RB: Was sind die Ziele der Arbeitsgemeinschaft?
M.D.: Die Ziele der Arbeitsgemeinschaft sind niedergelegt im „Hambacher Manifest“, das auf dem zweiten Treffen der AG auf dem Hambacher Schloss konzipiert und dann am 1. Juli 2017 in Berlin verabschiedet wurde. Wir verstehen darin die deutsche Geschichte wenigstens partiell als Teil der „langen europäischen Demokratie- und Freiheitstradition“. Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte und Menschenrechte sollen aktiv in den öffentlichen Diskurs, aber auch in die politische Bildung eingebracht werden – immer im doppelten Kontext der deutschen und europäischen Geschichte. Gleichzeitig verstehen wir Demokratie nicht als abstrakt und statisch, sondern als konkret und dynamisch. Man muss also auch zeigen, wo in Deutschland Menschen um die Demokratie gestritten haben, wo sie dafür auch Verfolgung erlitten und wo sie Erfolge errungen haben. Die Orte der Demokratiegeschichte sollen physisch erfahrbar sein und für die heutige Stärkung der Demokratie inspirierend wirken – bei aller Anerkennung der Janusköpfigkeit der deutschen Geschichte, die wir selbstverständlich nicht verdrängen können oder wollen. Insofern stellt sich die Arbeitsgemeinschaft auch ausdrücklich gegen gelegentlich geforderte ‚Kehrtwenden‘ in der Erinnerungskultur.

RB: Und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um der AG anzugehören?
M.D.: Die Arbeitsgemeinschaft ist von einer Handvoll von beteiligten Akteuren ins Leben gerufen worden, bei der Verabschiedung des Hambacher Manifestes waren wir 34 Mitstreiter, inzwischen sind es über 50, und es gibt noch viel Luft nach oben. Grundsätzlich muss ein Ort sich zu den Zielen der Demokratiegeschichte bekennen und zugleich selbst eine Bedeutung für die deutsche Demokratiegeschichte mitbringen. Viele der Orte sind physische Orte und Gedenkstätten, die man direkt besichtigen kann, wie etwa das Hambacher Schloss, die Paulskirche und viele andere. Manche sind einzelnen Persönlichkeiten gewidmet, etwa Friedrich Ebert, Matthias Erzberger, Erich Maria Remarque, Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Willy Brandt oder Helmut Schmidt. Und manche sind eher Forschungseinrichtungen oder zivilgesellschaftliche Institutionen als Besichtigungsstätten, etwa der Verein „Gegen Vergessen Für Demokratie“ oder die „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“. Organisatorisch ist die Arbeitsgemeinschaft sehr offen strukturiert. Wir kommen einmal im Jahr zu einer Tagung und zum Erfahrungsaustausch zusammen, sind aber bewusst noch nicht einmal als Verein organisiert. Wir wollen die Schwelle so niedrig wie möglich halten. Die Mitglieder wählen einen momentan siebenköpfigen Sprecher/innen/ rat, mit dem ein ehrenamtlicher Geschäftsführer unsere gemeinsamen Anliegen koordiniert. Wir alle arbeiten gut zusammen, und wer glaubt, dass dies auch sein Anliegen ist, kann einfach einen Antrag bei der AG stellen. Wir freuen uns über weitere Orte der deutschen Demokratiegeschichte!

RB: Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat die deutsche Demokratiegeschichte aus Ihrer Sicht in der Gegenwart?
M.D.: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat 2018 und 2019 in mehreren Reden und einem großen Artikel in „Der Zeit“ davon gesprochen, dass man sich in Deutschland viel stärker der eigenen Demokratiegeschichte erinnern solle. Das sehen wir natürlich ganz genau so. Aber es ist auch inspirierend, das Engagement der obersten politischen Ebene zu spüren. Im Oktober 2019 hat dann der Deutsche Bundestag parteiübergreifend und mit großer Mehrheit in der Drucksache 19/11089 beschlossen, Demokratiegeschichte zum Anliegen des Parlamentes zu machen und in Zusammenarbeit mit der Beauftragten für Kultur und Medien entsprechende Initiativen zu fördern. Im Beschluss des Bundestages war von stolzen 10 Millionen Euro jährlich die Rede. 2020 haben wir erst einmal deutlich kleiner angefangen, aber mit koordinierten Projekten beim Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart, bei der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Stiftung Gegen Vergessen – Für Demokratie in Berlin und beim Verein Weimarer Republik in Weimar ist ein Anfang gesetzt, der im nächsten Jahr hoffentlich ausgebaut werden wird. Und in der breiten Öffentlichkeit ist dieses Interesse ganz genau so vorhanden wie in der Politik. Um nur ein Beispiel zu geben: in Weimar hat der Verein Weimarer Republik mit der Unterstützung des Bundes, des Freistaates Thüringen und der Stadt Weimar am 31. Juli 2019, also exakt am 100. Jahrestag der Verabschiedung der Weimarer Verfassung, das „Haus der Weimarer Republik. Forum für Demokratie“ eröffnet. Bis zur Corona-bedingten Unterbrechung hatte der Publikumszuspruch unsere Erwartungen bei weitem übertroffen, und auch die Reaktionen der Besucher zeigten lebhaftes – und manchmal auch streitbares – Interesse. Das gilt auch für andere Veranstaltungen und Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft. Die Menschen in Deutschland haben das Interesse, mehr über die Entwicklung und Geschichte unserer Demokratie zu erfahren. Man muss ihnen nur ein Angebot machen, sie auf die Orte der Demokratiegeschichte hinweisen, und sie werden kommen. Von Gleichgültigkeit oder Zynismus gibt es nach unserer Erfahrung keine Spur!

Logo des Vereins Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten e.V.

RB: Auf der AG-Website ist eine schwarz-rot-goldene Kokarde prominent platziert. Ist das auch ein Zeichen gegen rechtsextreme Kräfte, die versuchen, die Farben zu kapern?
M.D.: Ja, keine Frage. Schwarz-Rot-Gold sind seit den Befreiungskriegen, erneut seit der Paulskirche, und dann mit der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, die Farben des liberal-demokratischen Rechtsstaats in Deutschland. Man muss vielleicht nicht gerade ganz so viel Aufwand um die Flagge herum betreiben, wie es einige andere demokratische Staaten tun. Aber wenn man Schwarz-Rot-Gold nicht für die Demokratie reklamiert – und zwar die rechtsstaatliche Demokratie, mit Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und freien Medien – dann werden es andere für ihre ganz eigenen Ziele tun. Dann wird die Fahne der Demokratie im Namen der Demokratie gegen die liberale Demokratie eingesetzt und missbraucht werden. Das dürfen wir nicht zulassen. Andere Demokratien habe eine einfachere und auch, als Demokratien, längere Geschichte als Deutschland. Und wir können von diesen Ländern, von den USA, von Frankreich, von Großbritannien und anderen lernen, dass Demokratien sich ihrer selbst bewusst sein müssen. Dazu gehört auch das Wissen um die Symbole der Demokratie. Die Feinde der Demokratie von rechts und links haben schon gewusst, warum sie auch die Fahne der Demokratie angriffen. Schwarz-rot-gold stand sowohl der roten Fahne wie auch der schwarz-weiß-roten und der Hakenkreuzfahne im Weg. Fahnen sind zunächst einmal bunte Stoffstücke. Aber sie stehen eben auch für geistige Haltungen und Wertentscheidungen. Diese gilt es gegen alle Angriffe zu verteidigen, vor allem gegen solche, die mit einem lauten Bekenntnis zur Demokratie daherkommen, damit aber eine illiberale „Demokratie“ im Sinne haben.

Mit freundlicher Genehmigung des Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Bund aktiver Demokraten e.V.

Quellen