Rethinking Federalism. Die föderale Staatsstruktur des Kaiserreichs als demokratisches Element?

Paul Lukas Hähnel

Der Platz des Kaiserreichs in der deutschen Demokratiegeschichte ist umstritten. Seit der These der „stillen Parlamentarisierung“ von Manfred Rauh aus den 1970er Jahren wird debattiert, inwiefern das Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkrieges vor einer Parlamentarisierung des politischen Systems stand. Die Forschung konzentrierte sich daher auf die Entwicklung des Reichstags und des Parteiensystems. Konsens herrscht bislang allerdings nur darin, dass der Reichstag seine Position im Institutionengefüge des Kaiserreichs ausbauen konnte und insbesondere nach 1890 eine wachsende Rolle bei der Gestaltung der Politik spielte.

Ob nun eine „stille Parlamentarisierung“ erfolgte, der Reichstag allmählich die Kontrolle über die personelle Besetzung der Reichsinstitutionen übernahm, oder 1914 weiter davon entfernt war als zuvor, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Stattdessen wird in diesem Beitrag eine Annahme hinterfragt, die diesen abweichenden Bewertungen gemein ist. Sie fügen sich in eine Interpretation des politischen Systems des Kaiserreichs ein, die unter dem Postulat der preußischen Hegemonie und des „Scheinföderalismus“ der dezentralen Staatsorganisation des Kaiserreichs nur sekundäre Bedeutung zuspricht. Der Bundesrat als föderales Repräsentativorgan des Kaiserreichs diente demnach einerseits der Verschleierung und Absicherung der preußischen Vorherrschaft. Andererseits schirmte er den Reichstag von der Exekutive ab und sicherte somit das Kaiserreich vor einer Parlamentarisierung, da die im Bundesrat vertretenen monarchischen Gliedstaaten ihre vitalen Interessen durch eine vermehrte Einflussnahme des Reichstags auf die Regierungsgeschäfte des Reichs bedroht sehen mussten. Dabei wird zumeist die Macht­arith­me­tik zwischen dem Bundes­rat als föderalem und dem Reichstag als demokra­ti­schem Repräsentativorgan als Nullsummenspiel konstruiert. Ebenso wird in diesem Zusammenhang auf den per Dreiklassenwahlrecht gewählten Preußischen Landtag verwiesen. Nach dieser Lesart konnte ein Aufstieg des Reichs­tags nur mit einer Schwächung des Bundesrats einhergehen.

Durch die starke Betonung der reaktionären Züge der Bundesratskonstruktion werden allerdings zwei Gesichtspunkte außer Acht gelassen. Erstens sollte der Bundesrat nicht in erster Linie als ein Bollwerk gegen eine Parlamentarisierung betrachtet werden. Er hätte auch ein Katalysator für eine Parlamentarisierung sein können. Beispielsweise hätte sich der Bundesrat von innen heraus wandeln können. Durch eine Parlamentarisierung der Landesregierungen wären parlamentarisch legitimierte Politiker in den Bundesrat eingedrungen und eine parteipolitische Verbindungslinie zum Reichstag hätte entstehen können. Diese hypothetische Annahme wird durch neuere Arbeiten unterfüttert, die insbesondere das Parlamentarisierungspotenzial auf der Landesebene hervorheben und mitunter sogar ab der Jahrhundertwende eine Quasi-Parlamentarisierung der süddeutschen Staaten postulieren. Gerade die subnationalstaatliche Ebene des Kaiserreichs stellte sich als ein Laboratorium für politische Beteiligungsmöglichkeiten und demokratische Praktiken heraus. Dabei bot sie durch unterschiedliche politische Systeme, die sich in verschiedene Richtungen entwickelten, ein ambivalentes Erscheinungsbild. Wenn Demokratie als ein Prozess verstanden wird, in dem jedes von einer politischen Entscheidung betroffene Mitglied das Recht der freien Interessenartikulation und Einflussnahme be­sitzt, kann auch die föderale Staatsorganisation des Kaiserreichs als eine Chance reflektiert werden, gesellschaftliche Forderungen und Interessen der subna­tio­nal­­staat­li­chen Ebenen innerhalb des obrigkeitsstaatlichen Systems des Kaiserreichs zu verwirklichen.

Zweitens wird der Föderalismus im Kaiserreich oftmals auf die Institution des Bundesrats begrenzt betrachtet und damit einhergehend der einzelstaatlichen Vertretung auf Reichsebene eine umfassende Machtlosigkeit konstatiert. Damit wird der Blick auf die Funktionsweise und den Wandel des Föderalismus im Kaiserreich stark beschränkt. Gliedstaatliche Einflussnahme und föderale Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse fanden keineswegs nur in der Institution Bundesrat statt. Denn der Bundesrat war nicht immer der Ort, wo verhandelt und Entscheidungen zwischen den Gliedstaaten untereinander und zwischen den Regierungsebenen getroffen wurden, da sich im Laufe des Kaiserreichs auf jeder Stufe der politischen Willensbildung Formen der föderalen Interessensvermittlung institutionalisierten. Der Bundesrat wurde flankiert von unterschiedlichen Strukturen, in denen ein Ausgleich zwischen abweichenden Interessen der verschiedenen Staatsebenen und der verschiedenen Gebietskörperschaften erzielt werden konnte. Dies fand je nach Politikfeld in unterschiedlichem Ausmaß, auf verschiedenen Entscheidungsebenen und durch unterschiedliche Kanäle statt. Die föderale Staatsstruktur sollte demnach nicht vornehmlich auf die Kernfrage einer Parlamentari­sie­rung des Reiches hin betrachtet werden und insbesondere nicht unter einer Dichotomie Föderalismus-Parlamentarismus. Vielmehr sollte das staatliche Organisationsprinzip des Föderalismus im Kaiserreich als ein generelles gesellschaftliches Konfliktlösungsprinzip durch konsensorientierte Entscheidungssysteme verstanden werden.

Diese konsensorientierten Entscheidungssysteme hat­ten ihren Ursprung in der Art und Weise, wie Kompetenzen und Aufgaben auf die unter­schied­li­chen Staatsebenen verteilt wurden. In der Verfassung war gleich in doppelter Weise ein Kooperationsverhältnis zwischen Reichs- und Landesebene verankert. Die Staatsorganisation verband Vollzugs- und Exekutivföderalismus miteinander. Keine gewählten Repräsentanten, sondern Delegierte der Landesregierungen vertraten die Einzelstaaten auf Reichsebene. Die Regierungen der Einzelstaaten waren damit institutionalisierte Akteure auf der Reichs- und der Landesebene. Sie wurden im Bundesrat an der Gesetzgebung des Reiches beteiligt und ihnen oblag in allen Bereichen der inneren Politik (mit Ausnahme der Landesverteidigung) die Implementation der politischen Entscheidungen und insbesondere die Ausführungen der beschlossenen Gesetze. Das Kaiserreich verfügte bis zu seinem Untergang über keine Vollzugsverwaltung. Grundsätzlich übernahm die Reichsebene nur dort Verwaltungsaufgaben ohne Beteiligung der Landesebene, wo sich noch keine tradierten staatlichen Zuständigkeiten entwickelten hatten (Flottenwesen, Kolonien). Landesexekutive und Reichsgesetzgebung waren in­s­ti­­tutionell verklammert, und ein Großteil der staatlichen Aufgaben ließ sich nur im Zusammenspiel von Reich und Gliedstaaten erledigen. Damit war bereits in der Reichsverfassung ein „Verwal­tungs­föderalismus“ angelegt, der die deutsche Staats­organisation noch heutzutage auszeichnet.

Die in der Verfassung verankerte verbundsföderalistische Konstruktion des Reichs bedingte einen hohen Koordinationsbedarf, förderte eine ebenenübergreifende Kooperation und begünstigte eine vertikale Verflechtung der Staatsebenen. Allein die Kompetenzverteilung zwischen Reich und Gliedstaaten bildete schon die Grundlage für strategische Interessen- und Ressourcenabhängigkeiten der Regierungsebenen, da das System ohne wechselseitige Kooperationen nicht adäquat funktionieren konnte. Aufgrund der Aufteilung zwischen der Gesetzgebung des Reiches und dem Gesetzesvollzug der Länder bot es sich an, die Einzelstaaten an der Konzeption der Maßnahmen zu beteiligen, die diese später implementieren mussten. Zum einen erhöhte der Austausch zwischen Entscheidungs- und Vollzugsebene die Implementierungschancen beschlossener Maßnahmen. Zum anderen bündelten sich durch die nachgeordnete Zuständigkeit in den Landeszentralbehörden praktische Erfahrungen und Sachkenntnisse, die im gleichen Maße auf Reichsebene nicht bestanden. In vielen Fällen war es einfach notwendig, die Expertise der gliedstaatlichen Verwaltungen dem Rechtsetzungsprozess anzukoppeln, um eine praxisorientierte Anwendung der auf Reichsebene beschlossenen Regulierungsmaßnahmen zu gewährleisten. Der bürokratische Apparat einzelner Gliedstaaten zeichnete sich indes durch spezielles Policy-Wissen aus, beispielsweise das Know-How der Hansestaaten im Seewesen.

Ohne eine verfassungsrechtliche Kompetenz konnte das Reich den Vollzug von Gesetzen nur dirigieren und nicht im Detail regeln. Koordinationsinstrumente entstanden, mit denen das Reich die glied­staat­lichen Verwaltungen lenkte und Standards ohne rechtsverbindlich kodifizierte Grundlage setzte. Über interministerielle Zusammenarbeit unter der Moderation der Reichsämter wurden allgemeine Richtlinien oder gleichlautende Verwaltungsanweisungen an die Regulierungsbehörden erlassen. Mitunter wurde der Bundesrat für diese informelle Koordination als Verhandlungs- und Beschlussforum genutzt. Da kein Einigungszwang bestand, erfolgte die Zusammenarbeit auf konsensueller Basis. Die Bereitwilligkeit der Gliedstaaten, in diesem Rahmen mitzuwirken, trug auch dazu bei, dass sie potenzielle Gestaltungsspielräume verloren, ohne förmlich auf eigene Kompetenzen verzichten zu müssen. Insgesamt stell­te die informelle Koordination des Gesetzesvollzugs die Reich-Gliedstaaten-Beziehung auf eine neue Grundlage. Doch nicht nur im Gesetzesvollzug, auch im Bereich der Landesgesetzgebung kam es zur Angleichung von Standards durch die informelle Koordination der Reichsebene und unter Nutzung der Institution des Bundesrats. 

Die Verfassung sah in der Gesetzgebung drei Zuständigkeitstypen vor: unmittelbare Reichszuständigkeit, einen Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung und ausschließliche Länderzuständigkeiten. Während die Verfassung Reichskompetenzen und den Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit von Reich und Einzelstaaten erschöpfend aufzählte, waren die Gliedstaaten für die Felder verantwortlich, die nicht genannt wurden. Hieraus resultierte ein erhebliches Quantum innenpolitischer Aufgabengebiete, die Ländersache waren. Im Verlauf des Kaiserreichs nahm die Regulierungsdichte auf Reichsebene zu. Dies lag einerseits an dem Bestreben, den neuformierten Nationalstaat als einheitli­chen Wirtschaftsraum durch groß angelegte Reichskodifikationen zu festigen, und war andererseits eine Folge davon, dass der Staat in immer weitere Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft infolge des Übergangs vom Laissez-faire zum Interventionsprinzip eingriff. Die zunehmende Regulierungsdichte auf Reichsebene und die Harmonisierung landesrechtlicher Standards be­ding­ten ein Ausschöpfen der konkurrierenden Ge­setz­gebung und damit eine Verringerung der Gestaltungsspielräume der einzelstaatlichen Regierungen, landesrechtliche Normen zu erlassen. Mit dem Verlust von Eigenständigkeit auf Landesebene waren zwei Entwicklungen verknüpft. Ersten erhielten die Landesregierungen neue Kompetenzen, da die verlorenen Gestaltungsgebiete nun in den Bereich des Reichsrechts fielen und Gesetzesänderungen die Zustimmung des Bundesrats erforderten. Hiermit war mitunter ein wachsender Gestaltungsspielraum durch Ausführungskompetenzen auf Landesebene verbunden. Zweitens konzentrierten sie ihr Augenmerk zunehmend auf die Reichsebene.

Nicht nur in der spezifischen Organisation der Exekutive und Legislative war ein hoher Koordinationsbedarf angelegt, sondern auch in der Struktur der Judikative. In einem Staatswesen ohne Verfassungsgerichtsbarkeit und ohne stringente Hierarchie zwischen den Justizbehörden der Staatsebenen war eine ebenenübergreifende Kooperation notwendig, um Konflikte zu beseitigen und den Nationalstaat als einheitlichen Rechtsraum zu formen.

Aufgrund der spezifischen Verteilung von Funktionen und Aufgaben kann das Kaiserreich als ein dynamisches Mehrebenensystem charakterisiert werden. Die offene Verfassung des Kaiserreichs bedingte die Entwicklung von informellen Strukturen und bildete sowohl den Rahmen für eine zunehmende vertikale und horizontale Verflechtung der Regierungsebenen als auch der von den Ebenen wahrgenommenen Aufgaben und Kompetenzen. Es etablierte sich ein Institutionen-Arrangement, das Reich und Gliedstaaten einschloss und die von der Verfassung vorgegebenen Strukturen ergänzend über­­lagerte. Aufgrund der ho­hen Koordinationszwänge zwischen den Staatsebenen durch die bundesstaatliche Verwaltungsstruktur prägten die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in einem hohen Grad Konkordanzmuster. Daher war der Föderalismus des Kaiserreichs ein Verhandlungssystem. Nicht das Mehrheitsprinzip bildete die Maxime der handelnden Akteure, sondern kon­sensorientierte Verhaltens­nor­men wie Proporz und Parität. Diese Interessenvermittlungssysteme bedingten allerdings häufig Kompromisse, die über den kleinsten gemeinsamen Nenner nicht hinausgingen und Probleme bewusst ausklammerten. Allerdings schwächten Konkordanzmechanismen auch die Asymmetrien im föderalen Staatsaufbau ab und förderten die Integration der Gliedstaaten mit ihren historisch gewachsenen Organisationsstrukturen in den föderalen Verbund. Die immer noch starke Fixierung auf das britische Westminster-Modell versperrt den Blick auf diese Abstimmungsprozesse unter den Gliedstaaten und zwischen den Regierungsebenen. Sie ist ein Grund dafür, dass bislang die fö­de­rale Logik kollektiver Entscheidungsfindungsprozesse zu wenig Be­rücksichtigung gefunden hat.

Ob sich der Föderalismus im Verlauf des Kaiserreichs verstärkt hat oder nicht, ist wie in so vielen Fällen eine Frage, welche Föderalismusdefinition der historischen Interpretation zugrunde gelegt wird. So wie die Gliedstaaten durch das Reich Kompetenz verloren, gewisse Problemfelder eigenständig zu bearbeiten, gewannen sie Gestaltungsmacht auf Reichsebene und beteiligten sich vermehrt an der Reichspolitik. Dabei wird in der neueren Forschung häufig die Tendenz moderner Bundesstaaten betont, immer mehr Aufgaben zu zentrieren. Auch um vorschnelle Gene­ra­lisierungen zu vermeiden, sei an die­ser Stelle angemerkt, dass die beschriebene Verflechtung zwischen den Regierungsebenen entweder als Einflusserweiterung der Gliedstaaten oder aber als ein Verlust autonomer Gestaltungsspielräume bewertet werden kann, den die Landesregierungen nicht vollständig durch ihre vermehrte Be­tei­ligung an der Willensbildung auf Reichsebene kom­pensieren konnten. Im Hinblick auf die Art und Weise wie die Staatsebenen miteinander interagierten, lässt sich allerdings die Aussage treffen, dass ein integriertes föderales System mit einem starken bürokratischen Element im Entstehen begriffen war.

Literatur:

Ambrosius, Gerold/Henrich-Franke, Christian/Neutsch, Cornelius (Hg.), Integrieren durch Regieren, Baden-Baden 2018

Hähnel, Paul Lukas, Föderale Interessenvermittlung im Deutschen Kaiserreich am Beispiel der Nahrungsmittelregulierung, Baden-Baden 2017

Hähnel, Paul Lukas/Höfer, Philipp/Liedloff, Julia, Föderale Mitbestimmung im Deutschen Kaiserreich. Der Einfluss der Länder auf die Reichsgesetzgebung, in: Ambrosius, Gerold/Henrich-Franke, Christian/Neutsch, Cornelius (Hg.), Föderale Systeme. Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union,
Baden-Baden 2015, 101–132

Lehmbruch, Gerhard, Der unitarische Bundesstaat in Deutschland. Pfadabhängigkeit und Wandel, in: Benz, Arthur/Ders. (Hg.): Föderalismus. Analyse in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, Wiesbaden 2002, 53–110